Kunst des klaren Denkens
Kleingruppen von ca. 50 Menschen. Es gab keinen nennenswerten technischen oder sozialen Fortschritt. Erst in den letzten 10.000 Jahren begann sich die Welt massiv zu verändern – Ackerbau, Viehzucht, Städte und der Welthandel kamen auf, und seit der Industrialisierung erinnert kaum mehr etwas an die Umwelt, für die unser Hirn optimiert ist. Wer heute eine Stunde durch ein Shoppingcenter schlendert, sieht mehr Menschen, als unsere Vorfahren während ihres ganzen Lebens gesehen haben. Wer heute zu wissen meint, wie die Welt in zehn Jahren aussehen wird,den lachen wir aus. In den letzten 10.000 Jahren haben wir eine Welt geschaffen, die wir nicht mehr verstehen. Wir haben alles raffinierter, aber auch komplexer und voneinander abhängiger gemacht. Das Ergebnis: erstaunlicher materieller Wohlstand, aber leider auch Zivilisationskrankheiten und, eben, Denkfehler. Nimmt die Komplexität weiterhin zu – und das wird sie, so viel lässt sich sagen –, werden diese Denkfehler häufiger und schwerwiegender.
Beispiel: In einer Jäger-und-Sammler-Umgebung zahlte sich Aktivität stärker aus als Nachdenken. Blitzschnelles Reagieren war überlebenswichtig, lange Grübeleien nachteilig. Wenn die Jäger-und-Sammler-Kumpels plötzlich davonrannten, machte es Sinn, ihnen nachzurennen – ohne nachzudenken, ob die wohl tatsächlich einen Säbelzahntiger gesehen hatten oder nur eine Wildsau. Ein Fehler erster Ordnung (es war ein gefährliches Tier und man rannte nicht davon) wurde mit dem Tod bezahlt, während der Fehler zweiter Ordnung (kein gefährliches Tier, aber man rannte davon) bloß ein paar Kalorien kostete. Es zahlte sich aus, in eine ganz bestimmte Richtung zu irren. Wer anders verdrahtet war, verschwand aus dem Genpool. Wir heutigen Homines sapientes sind die Nachfahren jener, die tendenziell den anderen nachrennen. Nur: Dieses intuitive Verhalten ist in der modernen Welt nachteilig. Die heutige Welt belohnt scharfes Nachdenken und unabhängiges Handeln. Wer einmal einem Börsenhype aufgesessen ist, weiß das.
Die evolutionäre Psychologie ist noch weitgehend eine Theorie, aber eine sehr überzeugende. Sie erklärt diemeisten Denkfehler – wenn auch nicht alle. Nehmen wir folgende Aussage: »Jede Milka-Schokolade hat eine Kuh drauf. Also ist jede Schokolade, die eine Kuh drauf hat, eine Milka-Schokolade.« Dieser Fehler unterläuft selbst intelligenten Menschen ab und zu. Aber auch von der Zivilisation weitgehend unberührte Eingeborene fallen darauf rein. Und es gibt keinen Grund zu denken, dass ihn nicht schon unsere Jäger-und-Sammler-Vorfahren gemacht haben. Einige Fehler sind offenbar fest einprogrammiert und haben nichts mit der »Mutation« unserer Umwelt zu tun.
Wie erklärt sich das? Ganz einfach: Die Evolution »optimiert« uns nicht im absoluten Sinn. Solange wir besser sind als unsere Konkurrenten (zum Beispiel Neandertaler), verzeiht sie uns die Fehler. Seit Jahrmillionen legt der Kuckuck seine Eier ins Nest kleinerer Singvögel, und diese brüten sie aus, ja, ernähren die Kuckucksküken auch noch. Ein Verhaltensfehler, den die Evolution diesen Singvögeln (noch) nicht ausgetrieben hat – weil er offenbar nicht gravierend genug ist.
Eine zweite, parallele Erklärung, warum unsere Denkfehler so hartnäckig sind, kristallisierte sich Ende der 90er-Jahre heraus: Unsere Hirne sind auf Reproduktion ausgelegt und nicht auf Wahrheitsfindung. In anderen Worten: Wir brauchen unser Denken primär, um andere zu überzeugen. Wer andere überzeugt, sichert sich Macht und damit Zugang zu mehr Ressourcen. Dieser Ressourcenzugang wiederum ist ein entscheidender Vorteil bei der Paarung und Aufzucht der Nachkommen. Dass es uns beim Denken nicht primär um die Wahrheit geht, zeigt der Buchmarkt. Romane verkaufen sich viel besser alsSachbücher, trotz des unendlich höheren Wahrheitsgehalts der Letzteren.
Eine dritte Erklärung schließlich besagt: Intuitive Entscheidungen – auch wenn sie nicht ganz rational sind – sind unter bestimmten Umständen besser. Damit befasst sich die sogenannte Heuristikforschung. Für viele Entscheidungen fehlen die nötigen Informationen, also sind wir gezwungen, Denkabkürzungen und Daumenregeln (Heuristiken) anzuwenden. Wenn Sie sich zum Beispiel zu verschiedenen Frauen hingezogen fühlen (oder Männern): Wen sollen Sie heiraten? Das geht nicht rational; verlassen Sie sich nur aufs Denken, bleiben Sie ewig Junggeselle. Kurzum, oft entscheiden wir intuitiv und begründen unsere Wahl
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