Kurpfalzblues
bekommen.
Sie konnte arbeiten, Menschen etwas verkaufen und trotzdem die ganze
Zeit an etwas anderes denken. Die dunklen Wolken machten sich einfach in ihrem
Kopf breit, egal was sie gerade tat. Nur beim Laufen, da lösten sie sich
langsam auf.
Bald würde alles besser werden. Die Wolken würden verschwinden,
ewiger Sonnenschein – wenn sie erst einmal weg war von hier. Weg aus dieser
verdammten Stadt, weg aus dieser ganzen verdammten Gegend.
Wenn sie irgendwo erzählte, dass sie in Heidelberg lebte, kamen
immer die gleichen Kommentare. Wie schön! Da war ich auch schon mal. So
romantisch.
Bla, bla, bla. Sie konnte es nicht mehr hören.
Wenn man als Tourist kam, im Sonnenschein auf dem Marktplatz saß und
Pizza und Eis in sich reinstopfte, dann war es vielleicht eine schöne Stadt.
Für sie nicht.
Zu viele schlechte Erinnerungen. Zu viele Nächte, die sie in ihrer
stickigen kleinen Wohnung unter dem Dach wach gelegen hatte.
Mit gleichmäßigen Schritten lief Lea über die Brücke, die Stufen
hinunter, und bog auf den schmalen Pfad, der am Ufer des Neckars entlangführte.
Sie würde es schaffen, wegzugehen. Sie wusste, dass sie es schaffen
würde. Man musste nur an seine Träume glauben. Australien. Das weiße Haus am
Strand. Leas Restaurant.
Sie rannte über den gepflasterten Weg, an der hohen Sandsteinmauer
entlang, unter dem Vorsprung, den die darüberliegende Straße bildete. Über sich
konnte sie die Autos hören, die dort entlangfuhren. Aber sonst war es heute
still hier.
Sie kannte die Geräusche am Fluss, sie kam fast jeden Abend hierher.
Manchmal rauschte das Wasser des Neckars in hohem Tempo vorbei, ein andermal
gluckerte und gluckste es, mal schien es fast zu flüstern. Leise, als ob die
Wassergeister etwas erzählen wollten.
Aber heute schwieg der Fluss. Seine Oberfläche war ganz glatt und
dunkel. Fast sah es aus, als habe er aufgehört zu fließen.
Lea lief, weiter und weiter. Konzentrierte sich auf ihren Atem.
Einatmen, ausatmen, Schritt für Schritt, so lange, bis sie den Schweiß an ihren
Schläfen spüren konnte.
Inzwischen waren auch die letzten Spaziergänger verschwunden.
Niemand war mehr zu sehen. Nur die Bäume am Ufer streckten wie riesige gebeugte
Gestalten ihre knorrigen Arme über den Fluss.
Ein Geräusch. Lea schaute sich um, blickte suchend in das
Dämmerlicht. Aber schon war es wieder still.
Obwohl sie schwitzte, spürte sie die Kälte, die an ihren Beinen
hochkroch, über ihre Schenkel, ihr Gesäß, bis hin zum Rücken. Kälte, die vom
Wasser kam.
Lea drehte um. Es war genug für heute. Sie musste noch Vokabeln
lernen.
Erstaunlicherweise kam sie gut mit. Dabei war sie in der Schule so
eine Niete in Englisch gewesen. Restaurant, das hieß auf Englisch das Gleiche
wie auf Deutsch. Aber wenn es nur Kleinigkeiten zu essen gab, wie nannte man
das? Snackbar?
Erst im letzten Moment sah Lea den großen Ast, der quer über dem Weg
lag. Fast wäre sie darüber gestolpert.
Aber es lag noch etwas auf dem Boden, schimmerte hell. Eine
Geldbörse. Daneben einige Münzen und ein Zwanzigeuroschein. Hatte das schon da
gelegen, als sie hergelaufen war? War sie so in Gedanken gewesen, dass sie es
nicht bemerkt hatte?
Lea bückte sich. Es war nicht nur ein Geldschein. Verstreut über dem Weg lag eine ganze Reihe von Scheinen
und Münzen, fast so, als habe jemand nach einem Bankraub seine Beute verloren.
Sie spähte den Weg entlang. Niemand war zu sehen. Dann fing sie an,
aufzusammeln, was sie im schwachen Licht entdecken konnte. Münze für Münze,
Schein für Schein steckte sie in ihre Hosentasche, folgte der Spur des Geldes,
bis sie direkt am Ufer stand.
Hinter ihr ein Geräusch. Ein Fuß, der aufgesetzt wurde, ein Schritt,
leise, voller Vorsicht. Und doch laut genug, dass Lea ihn hören konnte.
Sie stand da wie erstarrt, den Blick auf die Lichter am anderen Ufer
gerichtet. Traute sich kaum zu atmen.
Bestimmt hatte da eben noch nichts gelegen. Kein Ast und auch kein
Geld.
Wie konnte sie nur so dumm sein.
Langsam drehte sie sich um.
Der Schlag traf Lea mit voller Wucht.
Sie fiel zur Seite, sackte zusammen, ein Stoß, und sie stürzte in
den dunklen Fluss hinein. Hände legten sich auf ihre Schultern und drückten sie
unerbittlich nach unten. Eiskalt strömte das Wasser in ihre Lunge und holte sie
für einen kurzen Moment ins Bewusstsein zurück. Voller Panik schnappte sie nach
Luft.
Vergeblich.
Bilder stiegen in ihrem Kopf hoch wie die Luftblasen zur Oberfläche
des
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