Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
»Riso al burro versato schmeckt nur mit frischem Salbei!«, das wusste schon ihre Mutter.
Mit diesem Ziel war sie zu Hause aufgebrochen. Was sie wirklich vorhatte, durfte niemand wissen.
Vorsichtig tastete sie nach dem Brief, den sie in die Innentasche der winddichten Jacke gesteckt hatte, die Erik ihr immer zur Verfügung stellte, wenn sie auf Sylt zu Besuch war. Sie hörte das leise Knistern des Papiers und war beruhigt.
Als sie die Salbeiblätter in der Tasche hatte und den Parkplatz des Supermarktes überquerte, sah sie sich vorsichtig um. Beobachtete sie jemand? Wurde ein Kunde von Feinkost Meyer, der sie kannte, auf sie aufmerksam? Sie machte nur ein paar Touristen aus, von denen es auch im Herbst viele auf Sylt gab. Die waren damit beschäftigt, ihre Einkäufe in ihren Autos zu verstauen und die Einkaufswagen in den Laden zurückzubringen, ohne dass der Wind sie ihnen aus der Hand riss.
Mamma Carlotta zog den Reißverschluss bis zum Kinn zu und strich die vom Wind aufgeplusterte Hose glatt, die sie nur auf Sylt trug, weil in ihrem Dorf keine einzige Frau ihres Alters jemals eine Hose getragen hatte. Auf die Kapuze verzichtete sie und hielt ihre kurzen Locken trotzig dem Wind entgegen. Anfang Oktober biss er noch nicht zu, riss die Haare nicht gewaltsam aus ihrer Ordnung, sondern brachte nur durcheinander, was nicht unbedingt bleiben musste, wie es war. Es war schön, sich der Planlosigkeit des Windes hinzugeben. Sie vermittelte ein Gefühl von Freiheit, das Mamma Carlotta gut gebrauchen konnte. Es würde ihr vielleicht dabei helfen, sich zum ersten Mal in ihrem Leben gegen die Obrigkeit aufzulehnen. Protestieren! Demonstrieren! Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas Derartiges getan. Aber heute würde sie damit beginnen. Egal, was ihr Schwiegersohn dazu sagte.
Nur leider stand ihr auch noch eine andere Aufgabe bevor. Sie hatte ihrem Neffen ein Versprechen gegeben, ohne zu ahnen, welche Schwierigkeiten auf sie zukommen würden. Dabei kannte sie Niccolò und hätte es sich denken können. Er würde flehen und fluchen, wenn sie ihm nicht helfen wollte, abwechselnd von Selbstmord und Auswanderung reden und behaupten, seine Tante sei schuld daran, dass die Familie Capella ausgerechnet den Spross verlor, der den Angehörigen zuliebe auf seinen Traumberuf verzichtet hatte. Auch Mamma Carlotta hatte zu denen gehört, die ihm eine Karriere als Zirkusartist ausgeredet hatten, und sie war genauso froh gewesen wie alle anderen, als Niccolò endlich damit aufhörte, im Handstand die Straße hinunterzulaufen. Wie erleichtert war die Familie gewesen, als Niccolò endlich damit einverstanden war, seine berufliche Zukunft in der Gastronomie zu suchen. Wenn er sich jetzt vor lauter Verzweiflung doch noch einem Zirkus anschloss, würden alle gegen sie sein. Niemand würde Verständnis dafür haben, dass sie für ihn nicht alles getan hatte, was mit Übertreibungen, Notlügen, theatralischen Gesten, mit dem Anflehen des Himmels und notfalls mit Bestechung möglich war.
Sie war an der Ampel angekommen, die über die breite, stark befahrene Umgehungsstraße und dann direkt auf Braderup zuführte. Dass der Wind sie vor sich her jagte, tat ihr gut. Hätte sie sich ihm entgegenstemmen müssen, wäre es ihr sicherlich schwerer gefallen, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, womöglich hätte der Mut sie dann verlassen. Wieder sah sie sich um, als die Ampel auf Grün wechselte. Hatte sie jemand entdeckt, der sie später verraten konnte? Erst als sie sicher war, dass niemand ihr einen Blick gönnte, schob sie ihr Fahrrad über die Straße und sprang auf der anderen Seite hastig auf.
Nun ging es immer geradeaus. Zeit zum Nachdenken, Zeit, sich eine Ausrede zu überlegen, falls sie doch noch gesehen wurde, Zeit, ein letztes Mal zu erwägen, ob es nicht doch zu riskant war. Wenn alles gut gegangen war, würde sie beim Abendessen behaupten, ein Verkäufer sei extra für sie ins Kühlhaus gelaufen, um dort den frischesten Salbei herauszusuchen, was bedauerlicherweise sehr lange gedauert habe, weil der gute Mann nicht besonders flott auf den Beinen war. Und dann seien die Schlangen vor den Kassen so lang gewesen, dass das Einkaufen länger gedauert hatte als sonst, obwohl es nur um ein Sträußchen Salbei gegangen war. Natürlich würden ihre Enkel ihr unterstellen, sie hätte mit den Verkäuferinnen geschwatzt, den Kassiererinnen ihre Lebensgeschichte erzählt und dem Käseverkäufer das Bekenntnis entlockt, ein Auge auf die junge,
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