Kurschatten: Ein Sylt-Krimi
auch mit Mitte zwanzig keinen Waschbrettbauch gehabt hatte, schob er schleunigst beiseite. Aber dann fuhr er über seine behaarte Brust, und plötzlich war das alles nicht mehr so wichtig. Lucia hatte die weichen Locken auf seiner Brust geliebt, ihre Fingerspitzen hatten damit gespielt, oft hatte sie ihr Gesicht an seine Brust geschmiegt und behauptet, sich nirgendwo geborgener zu fühlen als auf dieser flaumigen Wolle.
Er öffnete die Augen und sah, dass Sören bereits vor seinem Spind stand und sich abtrocknete. »Ist noch Zeit für ein Bier, Chef? Oder wartet Ihre Schwiegermutter schon mit dem Abendessen?«
Erik antwortete erst, als er neben Sören stand. »Ein Bier geht auf jeden Fall. Ich bin nicht mal sicher, ob wir heute überhaupt ein Abendessen bekommen.«
»Wir?«, tat Sören erstaunt. Er ließ sich, wenn Eriks Schwiegermutter auf Sylt erwartet wurde, gern immer wieder erneut versichern, was eigentlich längst Gewohnheit geworden war: dass er die Mahlzeiten im Hause seines Chefs einnahm, wenn Mamma Carlotta dort für Antipasti, Primo piatto, Secondo und Dolce sorgte und sich über jeden Gast freute, der ihre Kochkunst zu schätzen wusste.
Erik stieg in seine Boxershorts und fand mit ihnen zu
der Selbstsicherheit zurück, die ein Vorgesetzter haben sollte. »Meine Schwiegermutter wäre zu Tode beleidigt, wenn Sie irgendwo ein Fischbrötchen verdrücken, während sie mit Parmigiana di melanzane oder ihren Käsetortellini aufwartet.«
Sörens Gesicht begann zu leuchten. »Sie meinen, es gibt heute Auberginenauflauf?«
M amma Carlotta schob ihr Fahrrad, obwohl sie dadurch kostbare Zeit verlor. Es war eine leise, aber eindringliche Angst, die sie hinderte, ihr Ziel zügig anzusteuern. Nicht nur die Angst vor den Vorwürfen der Kinder oder Niccolòs Vorhaltungen, sondern vor allem die Angst vor den eigenen Schuldgefühlen. Sie hatte sich so leicht von dem Engagement der Kinder anstecken lassen!
Zunächst waren ihr die Konsequenzen nicht klar gewesen, als Carolin und Felix sie gleich nach ihrer Ankunft auf Sylt mit den Neuigkeiten überfallen hatten. »Wir sind jetzt Mitglieder der Bürgerinitiative!«
Der deutsche Wortschatz ihrer Nonna konnte sich mittlerweile sehen und hören lassen, aber mit der Vokabel ›Bürgerinitiative‹ war sie heillos überfordert gewesen. »Che cos’è?«
Zunächst hatte sie nur mit halbem Ohr zugehört, weil so viel anderes zu tun und zu bedenken gewesen war. Immer, wenn Carlotta Capella in Wenningstedt ankam, um sich der Familie ihrer verstorbenen Tochter anzunehmen, war es am wichtigsten, erst einmal die Lebensmittelvorräte aufzufüllen, Antipasti einzulegen, die Wäsche zu waschen, Hemden zu bügeln, Betten zu beziehen und Knöpfe anzunähen. Erik hatte es nicht leicht als alleinerziehender Vater von zwei heranwachsenden Kindern. Genau genommen fragte Mamma Carlotta sich jedes Mal, wenn sie sich an die Arbeit machte, wie er seine Aufgaben überhaupt bewältigte. Sein Dienst war anstrengend, und wenn es ein Kapitalverbrechen auf Sylt gab, konnte er sich oft tagelang nicht um die Kinder und erst recht nicht um den Haushalt kümmern. Kein Wunder, dass Carolin und Felix ihrer Nonna jedes Mal dankbar um den Hals fielen, wenn sie auf Sylt ankam. Endlich jemand, der sie bemutterte, sie versorgte, für sie da war! So, wie Lucia für die beiden da gewesen war. Bis zu dem Tag, an dem ihr auf dem Weg von Niebüll zum Autozug der Lkw entgegengekommen war, dessen Fahrer nur für den Bruchteil einer Sekunde nicht aufgepasst hatte …
Wie immer hatte Felix schon alles herausgesprudelt, was ihn bewegte, ehe Carolin die ersten Worte auch nur formuliert hatte. Sie setzte sich, ebenfalls wie immer, schweigend an den Tisch, ließ ihren Bruder reden und wartete geduldig darauf, dass er etwas anderes wichtiger fand und sie mit ihrer Nonna allein ließ. »Die Investoren vom Festland kaufen unsere Insel auf!«, schrie Felix, als stünden sie auf einer belebten Kreuzung und müssten Motorenlärm übertönen. »Matteuer-Immobilien hat schon die halbe Insel zugepflastert, und nun wollen sie den nächsten Riesenkasten bauen! In Braderup! Direkt am Naturschutzgebiet! Und wenn das Ding fertig ist, stellt sich vermutlich heraus, dass ein Teil des Naturschutzgebietes dran glauben musste!«
Mamma Carlotta hatte nachdenklich den Basilikumtopf betrachtet, der auf der Fensterbank stand. Die Blätter waren noch zu grün, um sie wegzuwerfen, aber schon zu welk, um noch für einen frischen Salat zu taugen.
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