Kurschattenerbe
trocknen. Kaum hatte er die Wandelhalle passiert, verengte sich der Weg und machte einen Bogen nach links. Die Brückenpfeiler des Steinernen Steges kamen in Sicht.
Plötzlich vernahm Lenz die Sirene eines Einsatzfahrzeuges. Brannte es etwa? Lenz erkannte seinen Irrtum. Das Signal kam nicht von einem Feuerwehr-, sondern von einem Rettungswagen. Der bog von der Straße her in die Promenade ein, holperte ein kurzes Stück flussaufwärts und stoppte jäh.
Da vorn musste etwas passiert sein. War ein Kanufahrer gekentert? Plötzlich überkam Lenz eine Ahnung. Jäh beschleunigte er und radelte zu dem Fahrzeug, dem zwei Sanitäter entstiegen.
*
Jenny spürte Lenz’ Lippen auf den ihren. Sein Kuss schmeckte köstlich. Viel zu lange hatte sie darauf warten müssen, endlich war es so weit. Das hätte sie bereits viel früher haben können, wenn sie sich nicht so geziert hätte. Was machte das bisschen Altersunterschied zwischen ihnen aus? Zugegeben, es war nicht nur ein bisschen. Doch heutzutage war das kein Problem mehr. Dass Männer Ehefrauen und Geliebte hatten, die viel jünger waren, gab es seit Jahrhunderten. Mittlerweile nahmen sich auch Frauen das Recht heraus, eine Verbindung mit einem jüngeren Mann einzugehen.
Die Popdiva Madonna, kam Jenny in den Sinn, und eine Hollywoodschauspielerin, deren Name ihr gerade nicht einfiel … Der Kuss endete jäh. Nicht aufhören, dachte Jenny, und öffnete die Augen.
Der Mann, der sich über sie beugte, hatte kurzgeschorenes, helles Haar, ein breites, flächiges Gesicht und ausgeprägte, slawische Wangenknochen. Victor, schoss es ihr durch den Kopf. Oder Juri?
Augenblicklich fiel Jenny alles wieder ein. Maurice hatte bei ihrem Kampf das Gleichgewicht verloren. Zusammen waren sie in die Gilfklamm gestürzt. Im Fallen hatte er sie losgelassen. Doch das war nur ein schwacher Trost gewesen. Sie tauchte in das eisige Wasser ein, der Sog des Strudels zog sie unbarmherzig in die Tiefe.
Was hatte Lenz am Vortag zu ihr gesagt? »Ruhe bewahren, durchtauchen.« Dank seiner Worte war sie zumindest auf den Kälteschock vorbereitet. Sie konnte nur versuchen, sich seine Ratschläge zu Herzen zu nehmen. Mit aller Kraft widerstand sie dem Wunsch, nach oben zu schwimmen, sondern tauchte tiefer hinunter. Bald hatte sie das Gefühl, dass die Wirbel an Gewalt verloren. Zugleich merkte sie, dass ihr die Luft ausging. Ein kleines Stück schwamm sie unter Wasser flussabwärts, bis es ihr gelang, aufzutauchen.
Im nächsten Moment umklammerte sie jemand von hinten, danach wurde ihr plötzlich schwarz vor den Augen.
Maurice war es gelungen, ihrer habhaft zu werden und sie zu töten. Wie, daran konnte sie sich nicht erinnern.
Eines war offensichtlich: Sie befand sich im Himmel und die Engel sahen aus wie Saschas Bodyguards. Zumindest der, der sich über sie beugte. Der Engel drückte ihr mit beiden Händen auf den Solarplexus. Reflexartig richtete Jenny sich auf. Ein Schwall Wasser bahnte sich seinen Weg durch ihre Kehle und ergoss sich über ihre Brust.
»Sie kommt zu sich«, rief der Engel. Oder war es etwa doch Victor und sie lebte? Zwei Männer in Rettungsuniformen standen neben ihr und rissen sie hoch. Einer von ihnen umfasste sie von hinten und drückte ihr wieder kräftig auf einen Punkt unterhalb ihres Busens. Sie begann wieder zu würgen und spie einen weiteren Wassersschwall auf die Steine zu ihren Füßen.
Ein paar Mal wiederholten die Männer diese Prozedur, bis sie von Jenny abließen. Anscheinend hatte sie genug Flüssigkeit von sich gegeben.
»Bring’ mier sie ins Krankenhaus«, hörte sie einen der beiden sagen. »Leg’n S’ krod die Orm um unsere Schultern?« Jenny versuchte sich zu bewegen. Es funktionierte. Beide Männer waren links und rechts neben ihr und stützten sie. Schritt für Schritt hievten sie Jenny die Böschung empor. Zuletzt führten ein paar schmale Stufen hinauf zur Promenade. Ehe Jenny sich versah, hatte einer der beiden Rettungsmänner sie auf die Arme genommen und trug sie zu der Trage, die auf der Promenade bereitstand.
Kaum hatten die beiden Sanitäter sie hochgehoben, stürzte ein Mann auf sie zu. Lenz! Diesmal war er es wirklich. »Jenny!« rief er und trat auf einen der Rettungsleute zu. »Ich muss mitkommen. Die Frau ist …«
»Kennen Sie den Herrn?«, unterbrach ihn der Rettungsmann und wandte sich Jenny zu. »Ja. Er ist mein«, kurz zögerte sie, »er ist mein Freund«, vollendete sie den Satz.
Der Sanitäter sah zu seinem Kollegen hin, der
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