stand fest. Würde er es sein? Er wusste es nicht. Er blickte die Bäume an, aber sie verrieten ihr Geheimnis nicht. Sie starrten ihn einfach nur an.
Dann begann er, zu lachen.
KIANDRA
Seit 21 Jahren werde ich immer wieder gefragt, was aus Kiandra geworden ist. Es ist Zeit, meine Geschichte zu erzählen:
Leopold E. Kessler
[email protected] Herrn
Hauptkommissar a.D.
Werner Seidel
[email protected] Sehr geehrter Herr Seidel,
Es wird ein Schock für Sie sein, nach 21 Jahren eine E-Mail von mir zu erhalten. Dennoch bin ich sicher, dass Sie sich an mich erinnern. Nicht nur erinnern. Wahrscheinlich träumen Sie nachts noch manchmal von mir. Und von Kiandra. Vielleicht haben Sie sogar noch ein Bild von mir aus der alten Akte am Badezimmerspiegel hängen. Zur Erinnerung an den einzigen Kriminalfall in Ihrer Karriere, den Sie nicht lösen konnten. Vielleicht ist Kiandra aber auch nur noch eine vage Erinnerung für Sie. Ich weiß es nicht und ich werde es auch nicht mehr erfahren.
Ich habe lange mit mir gerungen, Ihnen diese E-Mail zu schreiben. Vor 21 Jahren habe ich trotz all Ihrer wieder und wieder kehrenden Befragungen immer behauptet, ich hätte keine Ahnung, was mit Kiandra passiert ist. Auch wollte ich nichts von dem schrecklichen Autounfall wissen, den Margarethe Schuster zu derselben Zeit hatte und der Ihrer Theorie nach kein Unfall war. Ich war ein 17- jähriger Junge und hatte Angst, das haben Sie richtig erkannt. Auch haben Sie korrekt vermutet, dass ich Ihnen etwas verschwiegen habe. Die Wahrheit ist: Ich weiß alles, was in jener Nacht passiert ist. Nur hätten Sie es mir niemals geglaubt. Sie werden es mir auch jetzt nicht glauben.
Ich habe zwei Jahre nach den schrecklichen Ereignissen von damals Icking und Bayern verlassen und bin nach dem Abitur nach Bonn gegangen, um dort Philosophie zu studieren. Danach habe ich bei einem Magazin in Düsseldorf als Journalist angefangen und bin seitdem dort. Ich bin sicher, das wissen Sie. Wahrscheinlich haben Sie manchmal einen Artikel von mir gelesen und heimlich die Faust geballt. Ich habe nie geheiratet. Überhaupt hatte ich zu Frauen immer ein gestörtes Verhältnis. Kiandra wollte nie ganz raus aus meinem Kopf. Die Schatten von damals spüre ich noch heute, sie kriechen aus den Ecken und bedrücken mich. Jetzt, wo es auf das Ende zugeht, werden sie immer kälter.
Wieso ich Ihnen diese E-Mail schreibe? Wenn ich jetzt meine Geschichte nicht erzähle, werde ich es nie wieder tun. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Bauchspeicheldrüsenkrebs - sagen die Ärzte. Vielleicht habe ich noch einen Monat. Vielleicht aber auch nicht. Ich will reinen Tisch machen und finde, Sie sind derjenige, der am ehesten die Wahrheit verdient hat. Denn Sie knabbern seit über 21 Jahren an diesem Rätsel.
Ich muss Sie vorwarnen: Befriedigend wird es für Sie nicht sein. Sie werden die E-Mail löschen und mich für einen Wahnsinnigen halten. Aber lieber jetzt als damals.
Es sind nicht viele Tatsachen, die Sie im Laufe der Zeit zusammengetragen haben. Sie wissen nicht, wer Kiandra war. Sie wissen nicht, wer Ihre Familie ist. Auch haben Sie keine Ahnung, wo sie hergekommen ist, geschweige denn, welches Schicksal sie in jener Nacht am 19. Oktober 1992 ereilt hat. Schlussendlich haben Sie auch nicht die leiseste Idee, wie das ganze mit der 85-jährigen Margarethe Schuster zusammenhängt, die auf dem einsamen Waldweg unweit unserer Hütte am See gegen einen Baum und in den Tod gefahren ist. Sie wissen nur, dass Kiandra und ich damals in selbiger Hütte waren, dass Margarethe Schusters Wagen davor gestanden haben muss und dass Kiandra seit dieser Nacht verschwunden ist. Das ist alles.
Sie hatten immer mich im Verdacht. Aber Sie konnten die Puzzleteile nicht zusammenfügen. Kiandra war verschwunden, es gab keine Spur, keine Leiche. Nur all ihre Klamotten in der Hütte, die darauf hindeuteten, dass sie nackt war, als sie verschwand. Ihre Identität stellte sich als Fälschung heraus. Und was Margarethe Schuster angeht ... keine Verbindung festzustellen. Außer dass sie auch nackt war, als sie gegen den Baum fuhr. Lassen Sie mich Ihnen die Puzzleteile reichen.
Etwa einen Monat vor ihrem Verschwinden tauchte sie überhaupt erst in meinem Leben auf. Wie auch im Leben aller anderen, mit denen sie in dieser Zeit zu tun hatte.
Frau Wiener stellte sie vor, am ersten Schultag im Schuljahr 1992/ 93 an unserem Gymnasium. Ich verliebte mich sofort in sie. Ihr goldbrünettes Haar