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Kurz bevor dem Morgen graut

Kurz bevor dem Morgen graut

Titel: Kurz bevor dem Morgen graut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Kimmelmann
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hier.
    Der erste Kuss mit Kiandra markierte auch das Ende meiner Beziehung mit Linda. Kiandra hatte Unrecht gehabt, als sie behauptet hatte, Linda wäre nicht dort gewesen. Sie stand direkt hinter uns. Kiandra hat zwar später behauptet, sie habe sie nicht gesehen, aber ich glaube, sie hat gelogen. Sie hat mich absichtlich vor Lindas Augen geküsst.
    Linda hatte uns zugesehen und lief mit hasserfülltem Blick auf Kiandra zu.
    „Wie kannst du es wagen, meinen Freund zu küssen, du Schlampe!“, schrie sie.
    Gut, Schlampe war für 1992 wirklich noch ein schlimmes Wort. Aber Kiandras Antwort markierte den Gipfel in ihrer teils antiquierten Verhaltensweise.
    „Ich hab mich wohl verhört, junge Dame!“, entrüstete sie sich in einem strengen Tonfall, bei dem man sich eine Gouvernante nebst Rohrstock vorstellen würde. Dann verpasste sie Linda links und rechts eine Ohrfeige.
    Erst war Linda starr vor Schreck, so wie ich auch, aber dann rannte sie schluchzend von dannen. Bis zu den Ereignissen jener Nacht grüßte sie mich ab da nicht mehr. Erst viel später kamen wir uns kurzzeitig wieder näher, aber das ist eine andere Geschichte.

    Von diesem Tag an waren Kiandra und ich ein Paar und scheuten uns auch nicht, dies offen zur Schau zu stellen. Wir trafen uns vor der Schule, liefen Händchen haltend ins Klassenzimmer und küssten uns auf dem Pausenhof.
    Nach einer weiteren Woche beschloss ich, einen Schritt weiter zu gehen.
    „Müssen wir eigentlich immer auf der Bank lernen?“, fragte ich eines Nachmittags frech. „Wir können doch auch einmal zu dir gehen.“
    Sie sah mich verwirrt, fast erschrocken an. Ich führte es zuerst auf das Anstandsgefühl eines jungen Mädchens zurück. Nicht dass ich selbst die Absicht hatte, an diesem Nachmittag mit ihr zu schlafen. Gut, ich hätte schon gewollt, aber ich hatte es noch nie gemacht. Es ging mir mehr um einen gewissen Mindestaustausch von Intimitäten. Gern ohne Klamotten. Oder zumindest mit etwas weniger als wir in der Schule trugen.
    Sie fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar.
    „Wollen wir nicht lieber zu dir gehen?“, fragte sie zaghaft.
    Keine gute Idee. Meine Mutter war auf 180, seit Lindas Mutter sie angerufen und ihr erzählt hatte, was passiert war. Kiandra mit nach Hause zu bringen war der schlechteste Weg für häuslichen Frieden.
    „Hast du Angst, dass deine Eltern mich nicht mögen?“, fragte ich.
    „Das ist es nicht“, meinte sie. „Es ist nur so ... sie sind momentan nicht da.“
    „Wo sind sie denn?“
    „Mein Vater ist auf Dienstreise in ... Berlin und meine Mutter begleitet ihn.“
    „Dann bist du ganz allein im Haus?“
    „N ... nein. Ich wohne momentan bei einer Bekannten meiner Mutter.“
    „Bei einer Freundin deiner Mutter?“
    „Nicht direkt einer Freundin. Sie ist schon eine ältere Dame. Frau Schuster heißt sie.“
    Ich wette, Herr Seidel, wenn Sie das lesen, stellen sich Ihre Nackenhaare auf. Das ist die Verbindung zwischen Kiandra und Margarethe Schuster, die Sie all die Jahre gesucht haben. Aber es kommt anders, als Sie denken. Ganz anders.
    „Und Frau Schuster ist zu Hause?“, fragte ich.
    „Nein, die ist noch bis vier bei ihrem Kaffeekränzchen.“
    „Na also. Du wirst doch ein Zimmer dort haben, oder?“
    Sie zierte sich noch ein bisschen, zog dann aber doch mit.
    Ja, Herr Seidel, ich war bei Margarethe Schuster zu Hause. Sie fragen sich jetzt bestimmt, warum Sie und Ihr Team dort keine Spuren von mir oder Kiandra gefunden haben. Glauben Sie mir, die haben sich darum gekümmert, dass Sie keine Verbindung zu mir herstellen. Die Gefahr wäre zu groß gewesen, dass ich rede.
    (Hat nicht jeder Paranoide irgendwelche „die“, von denen er sich verfolgt glaubt? Egal. Ich weiß, was ich in jener Nacht gesehen habe.)
    Margarethe Schuster. Mein erster Eindruck von ihr war: seeehr alt die Frau!
    Herr Seidel, Sie waren vor 21 Jahren um die sechzig, wahrscheinlich sind Sie heute von der 85 nicht mehr weit entfernt. Insofern – nichts für ungut. Ich hoffe allerdings, dass es in Ihrem Haus nicht so altmodisch aussieht wie bei dieser Dame. Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, ich hätte einen Zeitsprung gemacht und das 19. Jahrhundert betreten. Was natürlich eine Sinnestäuschung war, denn wenn Frau Schuster im Jahre 1992, 85 war, muss sie vermutlich im 20. Jahrhundert das Licht der Welt erblickt haben. Wenn auch knapp. Im Haus war alles sauber und adrett, aber so ... alt. Alte Möbel, alte Bilder, alte Teppiche. Es war

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