Kurz bevor dem Morgen graut
gewesen, mit ihr in unmittelbarer Nähe. Er musste es riskieren. Heute Nacht konnte er ohnehin nicht hier raus, nicht bei diesem Sturm. Er musste bis zum Sonnenaufgang durchhalten und konnte nur hoffen, dass sie ihn nicht kriegte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Erna. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“
Aber Leon blickte nur schweigend in die Dunkelheit hinaus.
Der Wind pfiff noch immer laut ums Haus, als Leon mitten in der Nacht erwachte. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Einem dringenden Bedürfnis seiner Blase folgend, stand er auf und tapste barfuß und in dem Schlafanzug, in dem normalerweise Ernas Enkel schlief, wenn er seine Großeltern besuchte, nach draußen auf den Flur.
Dort traf es ihn wie ein Donnerschlag. Die Melodie der weißen Fee ertönte so laut in seinem Kopf, als würde ein Zapfenstreich geblasen. Leons Beine begannen zu zittern. Nach einer Schrecksekunde lief er in panischer Angst zu Hans’ und Ernas Schlafzimmer. Die Tür stand offen, es brannte Licht.
Der Schock erwischte ihn so tief, dass Leon dachte, er müsse auf der Stelle tot umfallen. Hans und Erna lagen auf ihren Betten. Ihre Kehlen waren durchgeschnitten. Das Bett, der Boden, die rosa-grünen Altfrauentapeten, alles war mit ihrem Blut getränkt. Das Messer steckte noch in Hans’ Bauch.
Leon zitterte nun so heftig, dass er seine Kniegelenke knacken und seine Zähne aufeinanderschlagen hören konnte. Er spürte, wie seine Blase nachgab und Ernas Holzfußboden benetzte. Dann drehte er sich um und rannte die Treppe hinunter.
Die Haustür stand sperrangelweit offen, das war das Erste, was Leon sah. Der Sturm bahnte sich seinen Weg durch das Wohnzimmer, es war eisig kalt und die Melodie der weißen Fee posaunte durch das ganze Haus. Dann sah er sie.
Sie stand plötzlich in der Tür, das blendend weiße Gewand erhellte die Nacht. Leon wollte die Treppe wieder hinauflaufen. Plötzlich jedoch packten ihn zwei ihrer Häscher von links und rechts an beiden Armen und hielten ihn fest.
Leon schrie so laut er konnte, und versuchte sich loszureißen, aber es hatte keinen Sinn. Sie verstärkten ihren Griff nur noch, während zwei andere Häscher die Treppe hinauf liefen, um sich über Hans und Erna herzumachen.
Die weiße Fee des Todes kam auf ihn zu. Die Melodie wurde so laut, dass sein Kopf jeden Moment zu zerspringen drohte.
„Endstation, Leon“, hauchte sie.
Dann sah sie zu ihren Handlangern.
„Bringt ihn raus“, befahl sie.
Leon begann zu weinen und ließ sich schlaff im Griff der beiden Männer herabsinken. Er hatte aufgegeben. Sie schleppten ihn hinaus in die schwarze Nacht, die von blinkendem blauen Lichtschein erhellt war.
Die beiden Männer, die oben gewesen waren, näherten sich der weißen Fee.
„Sie sind beide tot“, sagte der eine der beiden. „Es muss das Ehepaar sein, das hier wohnt. Nahezu das gleiche Bild wie bei den Eltern.“
„Ich dachte eigentlich letzte Nacht, dass ich das Schlimmste schon gesehen hätte“, sagte der andere. „Aber das hier ...“
„Es übersteigt meine Vorstellungskraft, dass ein kleiner Junge so etwas tun kann, Frau Kommissarin“, meldete sich der erste Polizist wieder zu Wort. „Erst seine Eltern und jetzt dieses Ehepaar, das ihn ja offenbar bei sich aufgenommen hat.“
„Aber er hat es getan“, sagte die rothaarige Polizistin in dem weißen Hosenanzug. „Und wenn er uns gestern Nacht nicht entkommen wäre, könnten diese Leute hier noch leben.“
Es war der schrecklichste Moment in Kommissarin Inge Reiters Leben gewesen. An jenen Tatort in der Nacht zuvor, die Eltern des Jungen abgeschlachtet vorzufinden und dann diesen Jungen zu sehen, der mit dem blutigen Messer in der Hand auf der Toilette gesessen und ein Lied gepfiffen hatte, immer wieder dieselbe Melodie.
Der Junge war hinausgeführt worden, regungslos, als würde er überhaupt keinen Widerstand leisten. Dann plötzlich hatte er sich losgerissen und war in den Wald geflohen, der gleich neben dem Haus lag. Seitdem hatten sie ihn gesucht.
„Er wird sein Leben lang in der Psychiatrischen bleiben, oder?“, meinte der zweite Polizist.
„Ich glaube, den kriegen sie nie wieder hin“, entgegnete Inge Reiter.
Der Junge blickte zurück, als die beiden dunklen Häscher ihn in das Auto setzten. Er sah die weiße Fee des Todes im Türrahmen stehen, den starren grünen Blick auf ihn gerichtet. Er begann nun selbst, die Todesmelodie zu pfeifen. Jemand würde heute Nacht sterben, so viel
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