Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
an die Wand gehängt. Russland und Deutschland sind dick durchgestrichen, mit
solcher Heftigkeit, dass das Papier zerrissen ist. Hakenkreuz und Reichsadler sowie Hammer und Sichel hat er dazugezeichnet
und mit unleserlichem Gekritzel versehen. Seine Stimme zittert vor Erregung, als er nun zum Höhepunkt seiner Ausführungen
kommt: »Und wenn ich auch nur einen einzigen Menschen – einen Menschen wenigstens – von diesem Horror erlösen kann … findest du nicht, dass allein schon die Moral das gebietet?«
Mike murmelt etwas ausweichend Diplomatisches.
»Weißt du, Michail« – jetzt spricht er vertrauensvoll von Mann zu Mann –, »ein Kind kann zwar nur eine einzige Mutter haben, aber dass ein Mann viele Geliebte haben kann, ist doch ganz normal,
oder?«
Ich spitze die Ohren, um zu hören, was Mike antwortet, bekomme aber nur undeutliches Gemurmel mit.
»Ich verstehe ja, dass Vera und Nadia darüber nicht erfreut sind. Immerhin haben sie ihre Mutter verloren. Aber sie werden
Verständnis für mich haben, wenn sie erst einmal sehen, was für eine wunderschöne Frau Valentina ist.« (Ach ja?) »Natürlich
war auch Ludmilla, meine erste Frau, |41| ein wunderschönes junges Mädchen, als ich sie kennen lernte. Du musst wissen, dass ich auch sie damals gerettet habe. Ein
paar Jungen haben sie bedrängt und wollten ihr ihre Schlittschuhe wegnehmen, und da bin ich eingeschritten. So hat es angefangen
damals mit uns. Ja, ja, als Mann hast du nun einmal von Natur aus den Instinkt, eine Frau beschützen zu wollen.« (Oh,
bitte!
) »Und jetzt mit Valentina ist es so, dass ich wieder einer wundervollen Frau gegenüberstehe, die meine Hilfe braucht. Ich
kann doch nicht so tun, als sähe ich das nicht.«
Und nun zählt er all die schrecklichen Dinge auf, vor denen er sie bewahren möchte. Zum Beispiel dass man sich hier in der
ukrainischen Gemeinde erzählt, es gäbe dort in den Geschäften keine Lebensmittel zu kaufen. Die Leute hätten nur, was sie
selbst anbauten – es sei genau wie früher. Und der Griwna fällt und fällt. In Charkiw ist die Cholera ausgebrochen. Im Donezk-Becken
grassiert Diphtherie. In Shytomyr hat man eine Frau am helllichten Tag überfallen und ihr die Finger abgehackt, weil sie goldene
Ringe trug. In Tschernigow bei Tschernobyl haben sie Bäume gefällt und zu radioaktiv strahlenden Möbeln verarbeitet, die jetzt
im ganzen Land verkauft werden, so dass die Leute nun in ihren eigenen Wohnungen verstrahlt werden. In Donezk kamen vierzehn
Bergleute bei einer unterirdischen Explosion ums Leben. Am Bahnhof in Odessa wurde ein Mann festgenommen, der im Koffer einen
Klumpen Uran bei sich hatte. In Lwiw behauptet eine junge Frau, die Nachfolgerin Christi zu sein, und versucht, die Leute
davon zu überzeugen, dass in sechs Monaten die Welt untergeht. Ja, weitaus schlimmer als der Zusammenbruch von Gesetz und
Ordnung ist nämlich der innere Zerfall jeglicher rationaler und moralischer Prinzipien. Während die einen wieder in die alten
orthodoxen Kirchen strömen, laufen die anderen – und das sind noch viel mehr – den neuen |42| Sekten zu, die aus dem Westen ins Land kommen, oder sie gehen Wahrsagern auf den Leim, Heilsverkündern, profitorientierten
Hellsehern und Flagellanten. Niemand weiß mehr, was er glauben und wem er trauen soll.
»Wenn ich nur einen einzigen Menschen retten kann …«
»Mein Gott, Papa!« Ich hole aus und schleudere meinen Wischlappen nach ihm. Er landet in voller Nässe auf seinem Schoß. »Meinst
du nicht, dass du dich da ideologisch ein wenig verheddert hast? Valentina und ihr Mann waren Parteimitglieder. Sie waren
reich und hatten Einfluss. Es ging ihnen absolut nicht schlecht unter den Kommunisten. Valentina will jetzt nicht vor dem
Kommunismus fliehen, sondern vor dem Kapitalismus. Aber du findest Kapitalismus doch ganz gut, oder?«
»Hmm.« Er greift nach dem Wischlappen und fährt sich abwesend damit über die Stirn. »Hmm.«
Die Sache mit Valentina hat natürlich nicht unbedingt etwas mit Ideologie zu tun, das weiß ich.
»Wann können wir sie denn nun mal kennen lernen?«
»Eigentlich müsste sie nach ihrer Schicht vorbeikommen, so gegen fünf Uhr«, sagt mein Vater. »Ich habe hier etwas, was ich
ihr geben will.« Er nimmt einen dicken braunen Umschlag von der Kommode, in den eine Menge Papier gestopft ist.
»Wenn das so ist, dann gehe ich doch am besten jetzt los und erledige deine Einkäufe. Dann
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