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Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch

Titel: Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Männlichkeit ist noch intakt.
    »Gut, ab sofort will ich nichts mehr mit ihr zu tun haben. Du hast vollkommen Recht.«
    |48| Weil es allmählich spät wird, verabschieden wir uns, um uns auf die lange Heimfahrt nach Cambridge zu machen. Gerade als wir
     aus dem Haus treten, läutet drinnen das Telefon. Wir hören Vater Ukrainisch sprechen. Es ist zu leise, um zu verstehen, was
     er sagt, aber irgendetwas in seiner Stimme lässt mich aufhorchen, ein zögerlich-zärtlicher Tonfall. Vermutlich wäre es besser,
     wenn ich jetzt stehen bliebe, um zu lauschen und einzugreifen – aber ich bin zu müde, ich will nach Hause.
     
    »Weißt du eigentlich, wie viel Geld in diesem Kuvert war?«, fragt Mike.
    Wir sind auf halber Strecke, fahren durch die Dämmerung und lassen die Geschehnisse des Tages noch einmal vor uns ablaufen.
    »Nein«, sage ich. »Ich habe nur gesehen, dass es ziemlich viele Scheine waren. Schätze mal, hundert Pfund oder so.«
    »Mir ist aufgefallen, dass der oberste Schein ein Fünfzigpfundschein war. Wenn du zur Bank gehst und Geld abhebst, geben sie
     dir normalerweise keine Fünfziger, sondern Zehner und Zwanziger. Außer du willst wirklich eine große Summe mitnehmen.« Stirnrunzelnd
     versucht er sich auf die kurvige Straße zu konzentrieren. »Ich glaube, wir sollten das doch lieber herausfinden.«
    Abrupt tritt er auf die Bremse, als wir in einem Dorf an einer roten Telefonzelle vorbeifahren. Ich lasse ihn nicht aus den
     Augen, als er in seinen Taschen nach Münzen sucht, wählt, redet, Münzen nachwirft, weiterspricht. Dann ist er wieder da.
    »Achtzehnhundert Pfund.«
    »Was?«
    »In dem Umschlag. Achtzehnhundert Pfund. Der arme alte Mann   …«
    |49| »Der arme alte Dummkopf. Das müssen seine gesamten Ersparnisse sein.«
    »Valentina hat ihn angerufen und wollte ihn überreden, ihr das Geld auf ihr Konto zu überweisen.«
    »An seinen Gedichten war sie wohl nicht interessiert?!« (Haha.)
    »Er hat gesagt, er bringt das Geld übermorgen zur Bank zurück.« Wir fahren weiter. Es ist Samstagabend und außer uns kaum
     jemand unterwegs. Dämmerung hat sich nunüber das Land gesenkt, nur da, wo die Sonne hinter den Wolken herabgesunken ist, zeigen
     sich seltsam geformte Lichtstreifen am Himmel. Wir haben die Fenster heruntergekurbelt und lassen uns die Landluft ins Gesicht
     wehen – Weißdorn, Wiesenkerbel, Silodüfte.
    Gegen zehn sind wir daheim. Mike hängt sich noch einmal ans Telefon. Ich höre am zweiten Apparat mit.
    »Wollte nur Bescheid sagen, Nikolai, dass wir gut heimgekommen sind. Sag mal, du gehst doch übermorgen zur Bank, ja? Ich meine,
     der Gedanke, dass du jetzt so viel Geld bei dir zu Hause herumliegen hast, gefällt mir nicht besonders. Du kannst es doch
     hoffentlich irgendwo an einem sicheren Ort unterbringen?«
    »Ja   … Nein   …« Vater wirkt nervös. »Und wenn ich es ihr doch noch gebe?«
    »Das halte ich für keine gute Idee, Nikolai. Ich bin der Meinung, es ist am besten, wenn du es wieder zur Bank bringst. Genauso,
     wie du es dir vorgenommen hattest.«
    »Aber wenn es dafür schon zu spät ist? Wenn ich es ihr schon gegeben hätte?«
    »Wann hättest du es ihr denn gegeben?«
    »Morgen.« Er ist konfus, bringt alles durcheinander. »Morgen. Heute. Ist doch egal.«
    »Hör zu, Nikolai, warte. Warte einfach, bitte.«
    Mike zieht seinen Mantel an und greift nach den Autoschlüsseln |50| . Er sieht furchtbar müde aus. Als er in den frühen Morgenstunden wieder zurück ist, hat er den Umschlag mit den achtzehnhundert
     Pfund dabei. Bis er ihn am nächsten Tag zur Bank bringen kann, verstaut er ihn in der Schublade unter seinen Socken.
    Was mit den Gedichten passiert ist, entzieht sich meiner Kenntnis.

|51| 4.
Ein Kaninchen und ein Huhn
    Ich weiß nicht, wann und wie Valentina meinen Vater dazu brachte, ihr das Geld doch noch zu geben, Tatsache ist, dass sie
     es letztlich bekam.
    Obwohl mir klar ist, dass ich Vera darüber informieren muss, sträubt sich irgendetwas in mir dagegen, sie anzurufen. Jedes
     Mal, wenn ich mit meinem Vater oder meiner Schwester telefoniere, habe ich das Gefühl, eine Brücke zu überqueren, die von
     der Welt, in der ich eine erwachsene Frau mit Verpflichtungen und einem gewissen Maß an Macht bin, zu der geheimnisvollen
     Welt meiner Kindheit führt. Dort bin ich den Absichten und Zielen anderer Leute, die ich weder beeinflussen noch verstehen
     kann, ausgeliefert, und meine große Schwester ist die absolutistische Herrscherin

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