Kurze Geschichte des Traktors auf ukrainisch
nicht so. Wir können ja über Schopenhauer und Nietzsche reden.« (Haha.)
»Außerdem arbeitet sie.«
»Wir können uns ja hinterher treffen. Wenn sie frei hat.«
»Nein, darum geht es nicht … Nadeshda, besser reden wir nicht weiter darüber. Leb wohl.«
Er legt auf. Irgendetwas verheimlicht er.
|38| Einige Tage später rufe ich wieder bei ihm an. Dieses Mal versuche ich es anders.
»Hallo, Papa – ich bin’s, Nadeshda.«
(Das ist ihm schon klar, aber ich möchte freundlich klingen.)
»Ah. Jaja.«
»Papa, Mike hat am Wochenende frei. Wir kommen dich besuchen.« Vater liebt meinen Mann. Mit ihm kann er über Traktoren und
Flugzeuge reden.
»Hmm.
Tak
. Das wäre sehr nett. Wann …?«
»Samstag. Wir kommen Samstag zum Mittagessen. Gegen ein Uhr.«
»Okay. Gut, ich sage Valentina Bescheid.«
In der Hoffnung, Valentina abfangen zu können, stehen wir schon vor eins auf der Matte, doch sie ist bereits fort. Das Haus
sieht verwahrlost aus, tot. Als Mutter noch lebte, waren auf dem Tisch immer frische Blumen und eine saubere Tischdecke, und
es roch nach ihrem guten Essen. Jetzt gibt es keine Blumen, nur benutzte Tassen, Stöße von Zeitungen und Büchern und alle
möglichen Dinge, die niemand aufgeräumt hat. Auf der Kunststofftischplatte liegt Zeitungspapier, auf dem vertrocknete Brotstücke
und Apfelschalen darauf warten, in den Müll gekippt zu werden. Es riecht nach altem Bratfett.
Vater aber ist bester Laune. Er wirkt munter und lebhaft. Sein Haar, das jetzt ganz silbergrau und dünn ist, hängt ihm ziemlich
lang in den Nacken. Seine Haut hat wieder Farbe bekommen und scheint straffer und etwas sommersprossiger, als hätte er sich
draußen im Garten aufgehalten. Seine Augen strahlen.
Zum Lunch serviert er Fisch aus der Dose und eingelegte Tomaten mit Schwarzbrot, hinterher Toshiba-Äpfel – sein Spezialrezept:
Er schält Fallobst aus dem Garten, zerkleinert |39| es und schiebt es in einer Schale in die Mikrowelle (Marke Toshiba), wo er es kochen lässt, bis es klebrig-dick ist. Er ist
stolz auf seine Erfindung und bietet uns immer wieder davon an, noch einmal und noch einmal und dann auch noch etwas zum Mitnehmen.
Allerdings frage ich mich, ob es nicht ungesund ist, wenn er in der Hauptsache Dosenessen zu sich nimmt. Ist seine Ernährung
wirklich ausgewogen? Ich schaue nach, was er im Kühlschrank und in der Speisekammer hat, und finde Milch, Käse, Müsli, Brot
und jede Menge Dosen und Gläser, aber außer den Toshiba-Äpfeln und ein paar fleckigen Bananen kein frisches Obst oder Gemüse.
Nichtsdestotrotz sieht er gut aus. Ich mache mich daran, einen Einkaufszettel zusammenzustellen.
»Papa, du solltest mehr frisches Obst und Gemüse essen«, sage ich. Mit Blumenkohl und Karotten ist er einverstanden. Eingefrorene
Erbsen und Bohnen isst er nicht mehr, weil er davon husten muss.
»Kocht Valentina für dich?«, frage ich.
»Ab und zu«, sagt er vage.
Ich greife mir ein Wischtuch und ziehe gegen den Schmutz los. Überall liegt dicker Staub, überall klebt irgendetwas Verschüttetes.
Überall liegen Bücher herum – historische, biografische, kosmologische Themen –, die er gekauft oder aus der Bibliothek geholt hat. Auf dem Tisch im vorderen Zimmer finde ich mit seiner feinen krakeligen
Handschrift vollgeschriebene, mit vielen Anmerkungen und Ausbesserungen versehene Blätter. Ich habe Mühe, ukrainische Schreibschrift
zu entziffern, doch am Zeilenfall erkenne ich, dass es sich um Gedichte handelt. Vater hat mit vierzehn sein erstes Gedicht
veröffentlicht. Eine Eloge auf ein neues Wasserkraftwerk, das 1927 am Dnjepr gebaut wurde. Während seines Ingenieurstudiums
in Kiew gehörte er zu einem geheimen Kreis ukrainischer Dichter, die im |40| Zuge der Bewegung, Russisch in der gesamten Sowjetunion als Hauptsprache zu verbreiten, geächtet waren. Ich freue mich, dass
er noch immer Gedichte schreibt. Ich bin sogar ein wenig stolz auf ihn. Ordentlich staple ich die Papiere aufeinander und
wische den Tisch ab.
Im Zimmer nebenan hängt Mike mit halb geschlossenen Augen und einem Glas Pflaumenwein in der Hand im Sessel und versucht tapfer,
so auszusehen, als höre er konzentriert zu, während Vaters Stimme vor sich hin leiert.
»Was sich in diesem wunderbaren Land abgespielt hat, ist eine fürchterliche Tragödie. Die Grundübel des Faschismus und Kommunismus
haben seine Seele zerstört.«
Über dem Kamin hat er eine Landkarte von Europa
Weitere Kostenlose Bücher