Kuss der Finsternis - Cole, K: Kuss der Finsternis
Prolog
Herrenhaus Blachmount, Estland
September 1709
Zwei meiner Brüder sind tot , dachte Sebastian Wroth. Er lag auf dem Boden und starrte an die Decke, während er mit aller Macht darum kämpfte, sich nicht vor Schmerzen zu winden. Oder halb tot .
Er wusste nur, dass sie irgendwi e … anders waren, als sie aus dem Krieg zurückkehrten. Das Grauen des Krieges veränderte jeden Soldaten, aber Sebastians Brüder waren wie ausgewechselt .
Nikolai, der Älteste, und Murdoch, der Zweitälteste, waren endlich von der estnisch-russischen Grenze nach Hause zurückgekommen, obwohl Sebastian es kaum glauben konnte. Sie mussten dem Krieg, der nach wie vor zwischen den beiden Ländern wütete, den Rücken gekehrt haben.
Draußen tobte ein schrecklicher Sturm, der von der nahe gelegenen Ostsee über das Land peitschte, und aus dem strömenden Regen heraus betraten die beiden Gut Blachmount. Ihre durchnässten Hüte und Mäntel behielten sie an. Die Tür ließen sie hinter sich offen stehen.
Sie standen bewegungslos da, wie versteinert.
Vor ihnen befanden sich, über die Haupthalle verstreut, die blutigen Überreste dessen, was einmal ihre Familie gewesen war. Vier Schwestern und ihr Vater lagen im Sterbe n – von der Pest dahingerafft. Sebastian und der jüngste Bruder Conrad lagen, von Messerstichen übel zugerichtet, mitten unter ihnen. Sebastian war noch bei Bewusstsein, der Rest von ihnen gnädigerweise nicht mehr, nicht einmal Conrad, obwohl er noch immer vor Schmerzen stöhnte.
Nikolai hatte Sebastian und Conrad erst vor wenigen Wochen nach Hause geschickt, um die Familie zu schützen. Und jetzt waren sie alle dem Tod geweiht.
Blachmount, der Stammsitz der Wroths, war für die umherstreifenden Banden plündernder russischer Soldaten eine zu große Versuchung gewesen. In der vergangenen Nacht hatten sie das Gut angegriffen, auf der Suche nach den Reichtümern und Lebensmittelvorräten, die es dort Gerüchten zufolge geben sollte. Sebastian und Conrad hatten versucht, Blachmount gegen Dutzende von Angreifern zu verteidigen, doch schließlich wurden sie überwältigt und durch Stiche in den Unterleib niedergemach t – wenn auch nicht getötet. Die anderen Familienmitglieder blieben unverletzt. Sebastian und Conrad hatten die Soldaten lange genug aufgehalten, bis sie begriffen hatten, dass in diesem Haus die Pest wütete.
Daraufhin waren die Eindringlinge geflüchtet, wobei sie ihre Schwerter in den Leibern der Verwundeten stecken ließe n …
Als Nikolai sich über Sebastian beugte, tropfte Wasser von seinem langen Mantel und mischte sich mit dem Blut des Bruders, das auf dem Boden gerann. Er sah Sebastian mit einem so bitteren Gesichtsausdruck an, dass dieser für einen Moment glaubte, sein Bruder sei von seinem und Conrads Versagen angewidert – so angewidert wie Sebastian selbst.
Dabei ahnte Nikolai nicht einmal die Hälfte von dem, was geschehen war.
Doch Sebastian wusste es besser; er wusste, dass Nikolai auch diese Bürde auf sich nehmen würde, so wie alle anderen zuvor. Sebastian hatte seinem ältesten Bruder immer sehr nahegestanden, und er glaubte fast, Nikolais Gedanken hören zu können, als ob es seine eigenen wären: Wie konnte ich bloß erwarten, ein Land zu verteidigen, wo ich doch nicht einmal mein eigen Fleisch und Blut verteidigen konnte?
Leider war es ihrem Heimatland Estland keinen Deut besser ergangen als ihrer Familie. Im Frühling hatten russische Soldaten die Ernte geraubt und dann die Erde mit Salz unbrauchbar gemacht und verbrannt. Diesem Boden würde man nicht ein einziges Korn mehr entlocken können, und das ganze Land hungerte. Geschwächt und ausgemergelt, waren die Menschen eine leichte Beute für die Pest gewesen.
Nachdem sie sich von dem Schock erholt hatten, zogen sich Nikolai und Murdoch zurück und beratschlagten in harschem Flüsterton. Dabei zeigten sie auf ihre Schwestern und ihren Vater, als ob sie über etwas debattierten.
Über Conrad, der bewusstlos auf dem Boden lag, oder Sebastian selbst schienen sie allerdings nicht zu diskutieren. Hatten sie über das Schicksal ihrer jüngeren Brüder bereits entschieden?
Selbst im Delirium begriff Sebastian, dass sich die beiden irgendwie verändert hatte n – sie hatten sich in etwas verwandelt, das sein vom Fieber umnebelter Verstand kaum begreifen konnte. Ihre Zähne hatten sich verändert: Die Eckzähne waren länger, und seine Brüder schienen sie vor Wut und Angst zu blecken. Ihre Augen waren vollkommen schwarz,
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