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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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KAPITEL 1
    August 1914
    Sie erwachte in ihrem Hotelbett und erkannte, was ihr im Leben fehlte. Einen Augenblick lang sah sie es deutlich vor sich, alles, wonach sie jemals gestrebt hatte, jeden Verlust, der sie quälte, ganz greifbar, ganz nah. Die Erkenntnis war so verwirrend wie erdrückend.
    Dann aber schlug sie die Augen auf, blinzelte ins Tageslicht, und alles war wieder vergessen, und sie fühlte sich so leer und verfolgt wie am Abend zuvor. An allen Abenden, in all den Jahren.
    Aura blickte zum Fenster und sah die Sonne über den Dächern von Paris. Gleißende Helligkeit zerschmolz die Rauchfahnen der Schornsteine zu mageren Fäden. Das Licht brannte in ihren Augen, und sie schloss die Lider, lag ganz ruhig da und versuchte, sich zu erinnern. Sie hatte es fühlen können, in greifbarer Nähe. Sie hätte nur die Hand danach ausstrecken müssen, nach den Antworten auf all ihre Fragen, nach den Gründen ihrer Ruhelosigkeit, nach allem, was sie wieder und wieder von zu Hause forttrieb, in fremde Länder, fremde Städte, von einem Hotel ins andere.
    Nun aber war es fort. Die Gewissheit brachte ein ungeheures Gefühl von Verlust mit sich, von Trauer und von Wut. Sie kannte diese Empfindungen, kannte sie von durchwachten Nächten, vom dumpfen an die Decke Starren um drei Uhr nachts, kannte die Hitzewellen, die sie dann überkamen, kannte die Verzweiflung.
    Sie lag auf dem Rücken, bedeckt mit einem dünnen Laken. Die Augusthitze machte längst keinen Halt mehr vor den Mauern der Häuser. Die Hotelzimmer, sogar die fensterlosen Flure des Les Trois Grâces verwandelten sich tagsüber in Backöfen. Auch in der Nacht ging die Temperatur kaum zurück.
    Die hohen Fenster von Auras Suite – drei Zimmer, von denen sie zwei nicht benutzte – wiesen hinaus auf die Uferstraße und zur Seine, spiegelglatt, nur mit einer Hand voll Boote gesprenkelt. Schwach drang das Brummen vereinzelter Automobile, das Rattern der Droschken, das Klappern von Pferdehufen herauf, zweifach gedämpft von den Doppelfenstern. Aura dachte, dass die stumpfe, unpersönliche Stille von Hotelzimmern etwas an sich hat, das anderen Geräuschen das Blut aussaugt, sie schal und vage werden lässt; sie legt sich über alle Laute, sperrt die Außenwelt aus und ersetzt sie durch ein Missverständnis, das Architekten Ambiente nennen.
    Aura ließ ihren Blick träge über die hellblauen Tapeten und Schmuckbordüren, die Kommoden mit den geschwungenen Kanten, die Stühle mit den blassen Bezügen wandern. Seit ihrer Ankunft in Paris vor über zwei Wochen sah sie dasselbe Bild jeden Morgen, jeden Abend. Die Einrichtung, sündhaft teuer wie alles im Trois Grâces, war nicht ihr Geschmack; andererseits hatte sie nie Energie darauf verwandt, einen Geschmack in Sachen Möbeln zu entwickeln. Aus demselben Grund bevorzugte sie schwarze Stoffe für all ihre Kleider in den offenen Reisekisten. Schlicht und elegant. Passend zu jeder Gelegenheit.
    Außer, zugegeben, im heißesten August seit Jahren, in einer der überfülltesten Städte Europas. Seit einigen Tagen verfluchte sie das Schwarz ihrer Kleider, und brachte doch nicht genug Interesse auf, sich etwas Helleres zu kaufen. Sie hatte so viel anderes zu tun, auch wenn sie an den Abenden kaum zu sagen vermochte, was sie eigentlich den Tag über getan hatte.
    Stöbern in staubigen Buchläden und Bibliotheken. Begegnungen mit alten Professoren und verschrobenen Forschern. Endlose Wanderungen durch Museen und Galerien. Und ihre anderen Unternehmungen, nach Einbruch der Dämmerung oder tief in der Nacht: Einsteigen durch blinde Fenster und vernagelte Türen, über Kellerstiegen, verborgen unter dem Grün verwilderter Gärten. Streifzüge durch die Flügel verlassener Häuser und Palais, menschenleere Flu-re, in denen der Hall ihrer Schritte sich vervielfachte und ihr hinaus auf die Straße folgte. Alte Dachböden, deren Dielen sich unter zentnerschweren Kisten bogen. Kellergewölbe, bis zur Decke gefüllt mit verschimmelten Büchern. Vergessene Salons im Nebellicht des Mon-des.
    Immer auf der Suche.
    Aura zog die Hände unter dem Laken hervor und rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen. Das Sonnenlicht erschien ihr jetzt weniger gleißend, die Umrisse des Zimmers gewannen an Schärfe – das Innenleben eines Aquariums, dessen trübes Wasser man durch frisches ersetzt hatte.
    Zuletzt richtete sie ihren Blick auf die verspiegelte Decke. Irgendwem musste es frivol erschienen sein, sich im Bett beobachten zu können – Paris,

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