Kuss im Morgenrot: Roman
behaupteten, sie sei ein gefallenes Mädchen und der Statusverlust habe sie gezwungen, in Anstellung zu gehen.
Marks war so selbstgenügsam und unerschütterlich, dass man leicht vergessen konnte, dass sie selbst noch eine junge Frau in ihren frühen Zwanzigern war. Als Leo ihr zum ersten Mal begegnet war, war sie der Inbegriff einer vertrockneten alten Jungfer, mit ihrer Brille, dem mürrischen Gesicht und verkniffenen Mund. Ihr Rückgrat war so unbeugsam wie ein Schürhaken, und ihr allzu streng zurückgestecktes Haar hatte die triste braune Farbe einer Apfelmotte. Ungeachtet des Protests seiner Familie, hatte Leo ihr den Spitznamen »Sensenfrau« gegeben.
Doch das letzte Jahr hatte eine erstaunliche Veränderung in ihr hervorgerufen. Ihre Erscheinung war insgesamt gesünder, sie war immer noch schmal, aber nicht mehr so streichholzdünn wie zuvor, und ihre Wangen hatten wieder Farbe bekommen. Und vor etwa anderthalb Wochen, als Leo gerade aus London zurückgekehrt war, hatte er nicht schlecht gestaunt, als Marks plötzlich mit goldenen Locken vor ihm gestanden hatte. Offenbar hatte sie ihr Haar jahrelang gefärbt, und erst auf einen Fehler des Apothekers hin, der ihr das Färbemittel zusammenmischte, war sie gezwungen gewesen, die Maske fallen zu lassen. Und während die braunen Locken im Kontrast zu den zarten Zügen und der blassen Haut viel zu hart wirkten, sah ihr natürliches Blond umwerfend aus.
Dieser Umstand stellte Leo nun vor das Problem, dass Catherine Marks, seine Todfeindin, eine wahre Schönheit war. Dabei war es nicht einmal die neue Haarfarbe selbst, die ihre Erscheinung so sehr veränderte … es lag eher an ihrem ganz offensichtlichen Unbehagen darüber. Sie fühlte sich schutzlos und ließ es sich anmerken. Was den Effekt hatte, dass Leo sie am liebsten auch noch von allen anderen Schichten befreit hätte, und zwar wörtlich und ganz und gar physisch. Er wollte sie erkennen .
Leo hatte versucht, ein wenig auf Abstand zu gehen, während er über die Konsequenzen seiner Entdeckung nachdachte. Die Reaktion seiner Familie, die Marks neuem Erscheinungsbild mit einem gemeinschaftlichen Schulterzucken begegnete, verwirrte ihn. Warum war keiner der anderen auch nur ein bisschen so neugierig wie er? Warum hatte sich Marks über einen so langen Zeitraum bewusst unattraktiv gemacht? Wovor zum Teufel wollte sie sich verstecken?
An einem sonnigen Nachmittag in Hampshire, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Großteil der Familie anderweitig beschäftigt war, machte er sich auf die Suche nach Marks. Wenn er sie unter vier Augen damit konfrontierte, so glaubte er, würde er schon ein paar Antworten von ihr bekommen. Er fand sie draußen in einem durch Hecken geschützten Blumengärtchen am Rande des Kieswegs auf einer Bank sitzend.
Sie war nicht allein.
Leo blieb etwa zwanzig Meter entfernt im Schutz einer dicht gewachsenen Eibe stehen.
Marks saß neben Poppys frisch gebackenem Ehemann Harry Rutledge. Sie waren augenscheinlich in eine vertrauliche Unterhaltung vertieft.
Obwohl die Situation nicht unbedingt verfänglich war, so war sie auch nicht gänzlich angemessen.
Was in Gottes Namen hatten die beiden da zu besprechen? Selbst von dem fernen Aussichtspunkt war nicht zu übersehen, dass es sich um etwas Wichtiges handelte. Harry Rutledges dunkler Schopf neigte sich beschützend über sie. Wie ein enger Freund. Wie ein Liebhaber.
Leo blieb der Mund offen stehen, als er sah, wie sich Marks mit ihrer zarten Hand unter die Brillengläser fuhr, als wollte sie sich eine Träne fortwischen.
Marks weinte , und das in Gesellschaft von Harry Rutledge.
Und dann küsste Rutledge sie auf die Stirn.
Leo hielt den Atem an. Er verharrte reglos, während eine sonderbare Mischung von Gefühlen über ihn hereinbrach. Als es ihm gelang, das Knäuel zu entwirren, waren da Erstaunen, Sorge, Misstrauen, Wut.
Sie hatten etwas zu verbergen. Sie heckten etwas aus.
Hatte Rutledge sie sich einst als Mätresse gehalten? Erpresste er sie, oder wollte sie etwas von ihm erzwingen? Nein … die aufrichtige Zärtlichkeit zwischen den beiden war selbst auf die Entfernung deutlich zu erkennen.
Leo rieb sich das Kinn, während er darüber nachgrübelte, was zu tun war. Poppys Glück stand über allem, so viel war klar. Bevor er sich also auf den frisch gebackenen Ehemann seiner Schwester stürzen und ihn zu Brei schlagen würde, musste er herausfinden, was genau vor sich ging. Dann erst, und wenn die Umstände es
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