Schattenengel (Contoli-Heinzgen-Krimi)
1
Laura Koll rannte, kannte den Weg. Blind hätte sie ihn laufen können. Im Nebel ihrer Gedanken keuchte sie durch das Dunkel, wohlwollend taub für sämtliches Gefühl, denn das hatten ihr die kleinen, gelben Pillen mit ihrer trügerischen Substanz geraubt.
Für April war es eine warme Nacht. Voll stand der Mond am Himmel, dennoch erreichte sein Licht sie nicht unter den dichten, ineinandergewachsenen Kronen der Laubbäume. Grell hallte der Ruf eines Waldkäuzchens durch den Wald und ließ sie erschrocken zusammenzucken. Automatisch wurden ihre Beine für eine kurze Weile schneller. Andererseits flößte ihr die drückende Finsternis keine Angst ein. Sie war ihr sogar in tiefer Seele vertraut, stand synonym für ihr Leben. Die Zeit zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang war in einem Moment wie diesen ihr Schutzschild. Laura geriet ins Schwanken, weil sich ihre Füße in irgendetwas am Boden verhedderten. Schwindel erfasste sie. Ihr Körper wollte dem Kreisen in ihrem Kopf folgen. Es gelang ihr, zurück ins Gleichgewicht zu finden und weiterzulaufen.
Durch die allmählich durchlässiger werdenden Baumkronen drang nunmehr spärlich das Licht des Vollmondes. In einem fortwährenden Aufblitzen reflektierte es ihre Haare, das wie der Schweif eines galoppierenden Pferdes hinter ihr her wehte und die Tünche der Nacht durchstach. Gleich einem feenhaften Wesen schien sie in ihren dünnen, schwarzen Ballerinas über den bröckelnden Asphalt des Waldweges zu schweben.
Kurz nach der Gabelung konnte sie die Umrisse der rot-weißen Schranke erkennen. An der Absperrung stoppte sie und atmete durch. Obwohl sie es kaum erkennen konnte, wusste sie, dass jemand mit roter Farbe „Puff« und „Zutritt verboten« auf den weiß gehaltenen Flächen des Balkens geschmiert hatte.
Eine frische Windböe ließ die Blätter in den Baumkronen rascheln. Laura fröstelte. Mit beiden Händen strich sie sich über ihre Oberarme, spürte nur den Kälteschauer und den würzigen Duft des Waldes, den die Böe ihr in die Nase wehte. Ein Weilchen schloss sie die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Mit einem Mal jedoch drehte sie sich jäh um. Für Sekunden erstarrt lauschte sie und atmete schließlich erleichtert durch. Er war ihr nicht gefolgt. Er schien ihre Abwesenheit noch nicht bemerkt zu haben, denn es war Nacht, und zu dieser Zeit war er beschäftigt. Laura wusste, dass die geglaubten Schritte hinter ihr nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie gewesen waren. Sie beugte ihren Kopf hinunter und schob ihre biegsame schlanke Gestalt unter die Absperrung hindurch. Im Mondschein eröffneten sich links die gespenstischen Umrisse der Ruine des einstmals stattlichen Gasthauses Waldburg .
Ihre Gedanken glitten zurück. Es war abermals in sie gefahren. Mit einer überwältigenden Heftigkeit hatte sie das Zerstörerische in ihrem Innern aus dem Haus getrieben. Es war übermächtig, trieb und jagte sie voran. Es beherrschte ihr Denken und Tun. Auf widersinnige Art löste dieses verwirrende, gleichsam unendlich befreiende Gefühl in ihr Wohlbefinden aus. Dieses nicht konkrete Es in ihr spornte sie an, ließ sie nun rascher laufen, weiter, den Trampelpfad zwischen den Bäumen entlang. Vorwärts durch die scheinbar unberührte Landschaft vom Viktoriaberg, bis sie die Lichtung erreichte. Hier hielt sie erneut an und hechelte nach Luft. Die im Dunkeln liegenden Häuser auf dem Plateau vom Viktoriaberg oberhalb Remagens tauchten vor ihr auf. Langsam setzte sich Laura erneut in Bewegung. Am ersten Haus legte sie nochmals eine kleine Pause ein. Sie wollte nachdenken, aber ihr aufgelöstes Gehirn erlaubte es nicht. Jedoch gelang es ihr, bruchstückhaft Gedanken zu fassen, die sie allerdings sofort wieder verlor. Schwankend stolperte sie in das vor ihr liegende gepflasterte Sträßchen . Weiter, nur weiter. Außer Atem stieß sie unten in die Bergstraße. Ihr Ziel war der Rhein. Ihre taumelnden Sinnen spürten bereits, wie sein kalter Inhalt schockartig ihre Haut umspülte. Nahmen wahr, wie sich seine Wellen gierig öffneten, um sie aufzunehmen und hinabzutragen in sein Bett
2
Die Journalistin Anke Contoli-Heinzgen, die ihren zweiten Nachnamen mit Vorliebe wegließ, schlug mit dem Faustballen aufs Lenkrad und presste dabei die Zähne zusammen, dass sie knirschend voneinander abrutschten. „Was habe ich da nicht mitbekommen?«, fluchte sie zischend gegen die Windschutzscheibe ihres Wagens. Ein entgegenkommendes Fahrzeug betätigte die Lichthupe. Sofort
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