Kyria & Reb Bis ans Ende der Welt (German Edition)
hatte ihn umgebracht. Und meine Mutter und mich belogen.
Und keiner hatte bisher den Grund dafür herausgefunden.
Ich löste meine Arme von den Knien und stand auf.
»Ich gehe zum Strand runter, Reb. Ich muss eine Weile allein sein.«
»Ja, ist gut.«
Die Ebbe hatte vor geraumer Zeit eingesetzt und den welligen Meeresboden freigegeben. Das verbliebene Wasser in den Pfützen und Rinnsalen war warm. Hier und da lag eine gestrandete Qualle, huschte ein vielfüßiges Krabbentier vor meinen Zehen weg, stoben kleine Pickervögel auf. Ich bemühte mich, gar nichts zu denken. Ich wollte meinen Kopf leer machen, damit sich die Gedanken darin neu ordnen konnten.
Als ich das Ende der Bucht erreicht hatte, war ich bereit, mich ihnen zu stellen. Dort, wo die muschelbesetzten Felsen endeten und der Sand trocken und warm war, ließ ich mich nieder.
Wer waren jene, die diesen Mord begangen hatten? Warum hatten sie die Lüge mit dem Gendefekt inszeniert? Es war ihnen ziemlich perfekt gelungen, und es mussten mehrere gewesen sein. Wenigstens eine Ärztin war darunter. Dr. Martinez? Ich kannte sie, seit ich ein Kind war. Warum war es so wichtig, dass auch ich in dem Glauben aufwachsen musste, eine Gendefekte zu sein? Wenn ich jemandem gefährlich war, warum hatte man mich dann nicht schon als Säugling einfach umgebracht?
Was hatte mein Vater herausgefunden? Wem war er zu nahe gekommen?
Hatte er es meiner Mutter anvertraut?
Bonnie wollte mich töten.
Die Fragen schienen zusammenhanglos. Aber es musste eine Verbindung zwischen ihnen bestehen.
Ich schaute den Möwen nach, die über mir ihre Kreise zogen, landeten, eine Muschel in den Schnabel nahmen, wieder aufstiegen und sie aus großer Höhe fallen ließen, damit sie aufbrach. Dann stürzten sie herab, um das Fleisch herauszupicken. Nicht immer gelang es ihnen. Andere waren schneller, es gab wütendes Geschrei, Schnabelhacken, Kampf.
Es war für sie ganz natürlich, um Futter zu kämpfen.
Mutter Staat hatte hingegen das Mäntelchen der Friedfertigkeit über seine Kinder gelegt.
Doch unter diesem dünnen Mäntelchen tobte noch immer ein Kampf. Hinterhältiger und gemeiner als der der Möwen um ihre Nahrung.
Unruhig stand ich auf und machte mich auf den Weg zurück zu unserem Strandlager.
Reb konnte mir vielleicht einige Antworten geben. Alvar weitere.
Und, Kyria, was tust du, wenn du deine Antworten hast?
Ich fasste an mein Amulett – das meinem Vater gehört hatte, das er meiner Mutter geschenkt hatte.
Und das sie mir gegeben hatte.
Meine Mutter, die Demir, meinen Vater, geliebt hatte.
Und mich, seine Tochter.
Nur deshalb lebte ich vermutlich noch. Sie hatte mich beschützt.
Ich musste nur noch das Notwendige tun – zurückkehren.
Mit schnellen Schritten eilte ich über den festen Sand und ging dann auf die Badematten zu.
Reb lag im Schatten, die Arme über der Brust gekreuzt, und schlief.
Himmel, er war die ganze Nacht wach geblieben und schon vor mir wieder bei den Pferden gewesen. Er musste hundemüde sein.
Leise kniete ich mich nieder. Er rührte sich nicht. Aber das hatte nichts zu bedeuten, schon so oft hatte er mich mit seinem wachsamen Schlaf getäuscht. Sacht strich ich ihm eine Locke aus der Stirn.
Er schien wirklich tief zu schlafen, sonst hätte er bestimmt irgendetwas gemurmelt. Nun gut, meine Fragen konnten auch noch warten. Müde – eher erschöpft – fühlte ich mich auch. Also streckte ich mich neben ihm aus und legte, wie in so vielen Nächten zuvor, meine Hand auf die seinen und lehnte den Kopf an seine Schulter.
Er hatte mir nicht wehtun wollen.
Ich döste ein.
Es weckte mich das Rauschen der Wellen. Das und die Tatsache, dass etwas an meiner Seite fehlte. Ich öffnete die Augen und streckte mich. Die Schatten waren gewandert, ich lag in der Sonne. Die Flut hatte den Strand erobert, und als ich mich aufsetzte, sah ich Reb aus dem Wasser kommen. Tröpfchen glitzerten auf seiner Haut, geschmeidig bewegten sich seine Muskeln darunter. Er schüttelte sich, und Wasser sprühte aus seinen Haaren. Als er vor mir stand, reichte ich ihm sein Handtuch, und er wickelte es sich eilig um die Hüften.
Ich tat so, als hätte ich nicht gesehen, was er verbergen wollte.
»Ich habe Hunger«, stellte ich fest.
»Dann mach doch den Korb auf.«
Er war wieder kurz angebunden. Es würde schwierig werden, ihn zum Reden zu bringen, aber das war ja nichts Neues. Wir fanden Brot, ein Glas mit Rillette, ein Glas Marmelade, Kekse, Tomaten, Gurken, eine
Weitere Kostenlose Bücher