Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
angebrachten Geräte der Anlage erreichen konnte. Auf ihr sollten Winden montiert werden und Metallkörbe, mit denen sich die Techniker zu möglichen Reparaturstellen hinab lassen konnten. Auf dieser allerhöchsten Ebene würde die Stunde der Wahrheit schlagen, für den, der sie erreichen wollte. In seiner Phantasie sah Armand sich selbst die höchste Stufe erklimmen, hier würde er zeigen, was wirklich in ihm steckte. Hier war er einer allumfassenden Freiheit nahe, in der kalten Luft in einhundertzwanzig Metern Höhe.. Hier hatte er die Macht über sich selbst, sein ganzes Leben lag in seiner Hand. Keine Abhängigkeit reichte so weit nach oben. Hier wäre er allem entkommen, alles läge unter ihm. Hier konnte er frei wählen, bis zu der großen, einmaligen Alternative: Leben oder Tod.In Armands Ohren erklang ein Brausen, so als hörte er tatsächlich den Wind, der in dieser Höhe immer ungestört wehte.
Nun arbeitete Armand die kreativen Details ein. Cadcam, der gefügige Diener, gab ihm lautlos die technischen Lösungen für seine Ideen. Armands psychisches Grundmuster wurde in mathematische Formen gegossen und harrte in den Speicherzellen aus Silizium seiner Realisierung. Nach acht Stunden rastlosen Schaffens war Armand völlig erschöpft. Absolute Leere erfasste ihn. Armand hatte alles nach draußen gebracht, was in ihm war, aber nicht in der Form des reinen Gefühls, sondern in der Form architektonischer Gestaltung. Cadcam summte zufrieden.
1983 begannen die Bauarbeiten des Turmes. 1984 wurde er mit einer dezenten kleinen Feier eingeweiht.
Zwei Monate nach Inbetriebnahme des Turmes sprangen Agnes K., 24 Jahre alt, Kindergärtnerin und trotz dieses verantwortungsvollen Berufes rauschgiftsüchtig, ein halbes Jahr später Elfriede F., 56 Jahre alt, Hausfrau, verheiratet, zwei erwachsene Kinder, vom Turm in den Tod.
Nur vier Wochen später beging ein arbeitsloser Jugendlicher, Thomas F., 18 Jahre alt, keine Ausbildung, Selbstmord, indem auch er von dem Turm sprang.
Sofort nach dem ersten Todesfall war die Eingangstür mit einem schweren Schloss versehen worden. Und mit diesem Schloss bekam man ein Beispiel für eine Reihe mysteriöser Details, die es rechtfertigten, Friedrich Seyboldt, einen gemütlich wirkenden Beamten der Alten Schule, mit der Aufgabe zu betrauen, mögliche, noch unerkannte Hintergründe der Selbstmordserie zu erforschen. Die Staatsanwaltschaft gab ihre Einwilligung und Friedrich Seyboldt wurde für den Sonderfall "Turm" freigestellt. Aber weder die Installation des Schlosses, noch diese besondere Konzentration der Polizei auf den Fall verhinderten die weiteren Todesfälle. Nach zwei weiteren Selbstmorden wurde am 25.4. 1985, gegen drei Uhr morgens, der Leichnam des Kriminalbeamten Friedrich Seyboldt am Fuß des Turmes von zwei völlig verschreckten Wachleuten gefunden.
Kriminalhauptkommissar Günter Marl wurde von der Mordkommission Düsseldorf aus direkt mit der weiteren Bearbeitung beauftragt. Man konnte sich in Polizeikreisen nicht vorstellen, dass es bei einer solchen Häufung von Todesfällen mit rechten Dingen zuginge. Man konnte sich schon gar nicht vorstellen, dass Seyboldt Selbstmord begangen hätte.
Marl untersuchte den Turm und seine Umgebung, vernahm die Wachleute. Auf der örtlichen Polizeiwache entschied er sich, ein Gespräch mit dem Architekten Armand zu führen. Er trat in den Flur, wo er an der Wand angebracht einen kleinen Stadtplan fand. Günter orientierte sich, und zwanzig Minuten später stand er vor einem freundlichen altmodischen Haus, das weniger auf einen modernen Architekten, als einen fanatischen Liebhaber von Baudenkmälern schließen ließ.
Durch Günters Druck auf den Klingelknopf ertönte im Inneren des Hauses ein tiefer Gong. Die reich verzierte alte Haustüre schwang zurück und eine außer Atem geratene Dame, Mitte der Fünfziger, öffnete ihm. Sie sprach sehr hastig: "Sie müssen entschuldigen, wir sind erst gestern aus dem Urlaub zurückgekommen. Da ist noch so viel aufzuräumen. Sie möchten sicher meinen Mann sprechen?"
Günter fühlte sich von Klang ihrer Stimme gleichzeitig angezogen, wie abgestoßen. "Mein Name ist Günter Marl. Ich bin von der Kriminalpolizei Düsseldorf und möchte Ihrem Mann ein paar Fragen wegen seines Turmes stellen."
Obwohl Günter das Wort Mordkommission schon vorsichtshalber ausgespart hatte, sah er helle Panik in den Augen der Frau aufflammen. "Dann kommen Sie bitte herein! Mein Mann muss jeden Augenblick da
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