Lacrima Nigra (Phobos) (German Edition)
Augenblick dröhnte der mehrstimmige Gong einer großen Pendeluhr, die gleich neben der Tür des Wohnzimmers stand. Sie war Günter schon beim Eintreten aufgefallen, weil sie größer war als er selbst. Günter verabschiedete sich. Armands Frau, die wie aus dem Nichts heraus plötzlich wieder aufgetaucht war, geleitete Günter zur Tür, wie um ganz sicher zu gehen, dass er das Haus auch wirklich verließ. Dann trat sie geräuschlos zu ihrem Mann ins Wohnzimmer. Armand wandte sich Monika zu: "Habe ich etwas Destruktives, Grauenerregendes mit diesem Turm erschaffen, ein Monster, das Menschen frisst?", fragte er, wie im Selbstgespräch.
Monika spürte die Selbstquälerei, die hinter diesen Worten steckte. Sie legte mitleidig eine Hand auf seine Schulter. Aber Armand zuckte zurück, als habe ihn eine Schlange gebissen. Er sehnte sich nach Gefühlen. Aber wenn Monika eines zeigte, konnte er nichts damit anfangen. Bedrückendes Schweigen breitete sich im Wohnzimmer aus. Monika sah sich nicht in der Lage, dieses Schweigen zu brechen. Sie wusste, dass Armand Einfühlsamkeit von ihr erwartete, nur um sie ablehnen zu können. Im Grunde wollte er in seinem Kummer allein bleiben, der große Unverstandene, und sie war es leid. Das war sie so leid.
Inzwischen war Armand schon wieder auf der Flucht vor den echten Gefühlen in die Sphäre technischer Wirklichkeiten ausgewichen. Ihm erschienen technische Einzelheiten des Turmes vor Augen, das einladende Tor, und sie verschwanden den ganzen Tag über nicht mehr aus seinem Bewusstsein, bildeten ein dauerhaftes starkes Bollwerk zwischen ihm und Monika. Gegen Abend würde er wieder Gefühl von Monika verlangen. Das würde sie ihm nicht geben. Er würde sich sehnen.
Gegen 15 Uhr traf Kriminalkommissarin Luise Reimers zur Unterstützung von Günter ein. Günter hielt mit ihr zusammen zunächst eine umfassende Lagebesprechung in der Polizeistation ab. Der Ortspolizist versprach, ihnen Zimmer im einzigen Hotel des kleinen Ortes zu besorgen. Er versorgte sie außerdem mit dem Material zu den Todesfällen. Nachdem sie die alten Aufzeichnungen der bearbeitenden Kriminalisten und ihre Vernehmungsprotokolle aus dem Umfeld der Toten gelesen hatten, verließen Luise und Günter die Wache. Sie verbrachten einige sehr fruchtlose Gespräche mit den Hinterbliebenen derer, die auf so ungeklärte Weise vom Turm gestürzt waren. Aber die Vernommenen hatten schon alle von dem neuen Todesfall gehört. Denn wie das in kleinen Orten so üblich ist, kochte auch hier die Gerüchteküche schnell und heiß. So wollten die Betroffenen mehr von Günter und Luise wissen, als sie selbst an wichtigen Informationen geben konnten.
Gegen 2o Uhr hatten Günter und Luise die Nase voll. Sie holten ihre Taschen aus der Polizeistation und fuhren zu dem kleinen Hotel, in dem der Ortspolizist ihnen Einzelzimmer bestellt hatte. Im Restaurant des Hotels aßen sie schweigend zu Abend. An der Theke saßen noch ein paar Männer aus dem Ort, die sich leise murmelnd unterhielten, wohl in der Hoffnung, ein paar neue Sensationen von Luise und Günter aufschnappen zu können. Das Essen war gut und Günter entspannte sich zunehmend, zumal sich Luise wirklich als eine angenehme Partnerin erwies.
Und als das gedämpfte Lampenlicht ihr noch den einen oder anderen Sternensplitter ins dunkle Haar zauberte, begannen sich Günters Gedanken immer mehr in reichlich unberuflichen Bahnen zu bewegen.
Luise schien ähnlich zu empfinden, und nach ziemlich langer angeregter Unterhaltung trennten sie sich, um ihre Zimmer aufzusuchen. Günter ging sofort ins Badezimmer, pfiff beim Waschen lustig vor sich hin. Die unerfreuliche Sackgasse, in die sie mit ihrer Untersuchung gekommen waren, hatte für ihn ihre Bedrohlichkeit verloren. Als einzige Übereinstimmung bei allen Todesfällen war ihnen der Turm geblieben. Und wer hätte je davon gehört, dass ein Turm festgenommen worden sei?
Morgen würde er sich die Bundeswehr vornehmen, um Armands Hinweis auf die Spionagemöglichkeit weiter zu verfolgen.
Was geschah nachts in diesem Turm? Günter geriet an diesem Abend in eine Stimmung, in der er seinen Intellekt auf eine innere Reise schickte. Dort würde er wie von selbst arbeiten. Auf diese merkwürdige, geheimnisvolle Weise, die ihn von den meisten seiner Kollegen unterschied, würde seine Intuition die richtigen Dinge zusammensuchen. Wenn er morgen früh aufwachte, würde er Kenntnis von all dem haben, was sie heute, im hellen Tageslicht, übersehen
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