014 - Das Geheimnis der gelben Narzissen
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»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht recht, Mr. Lyne«, sagte Odette Rider und sah den jungen Mann düster an, der an dem Schreibtisch lehnte. Ihre zarte Haut war mit Rot übergossen, und in den Tiefen ihrer versonnenen grauen Augen blitzte ein Blick auf, der jeden anderen gewarnt hätte. Aber Mr. Lyne war so von sich selbst, von dem Eindruck seiner Persönlichkeit und von seiner Begabung überzeugt, daß er glaubte, alle Menschen müßten sich seinen Wünschen fügen.
Er schaute nicht in ihr Gesicht. Seine Blicke glitten über ihre herrliche Gestalt und bewunderten ihre tadellose aufrechte Haltung, den schöngeformten Kopf und die zarten feinen Hände.
Er strich sich das lange schwarze Haar aus der Stirn und lächelte. Er gefiel sich darin, zu glauben, daß seine Züge seine geistigen Fähigkeiten verrieten und daß man seine etwas bleiche Gesichtsfarbe vielem Nachdenken zuschreiben müßte.
Er hatte sein Büro in das Halbgeschoß einbauen lassen, und die großen Fenster waren so eingesetzt worden, daß er jederzeit die wichtigste Abteilung seines Geschäftes mit einem Blick kontrollieren konnte.
Ab und zu wandte sich sein Kopf zu seinem Zimmer, und er wußte, daß sich die Aufmerksamkeit all dieser Mädchen auf die kleine Szene konzentrierte, die man vom Erdgeschoß aus gut beobachten konnte.
Auch Odette war sich dieser Tatsache wohl bewußt, und je länger sie bleiben mußte, desto unglücklicher und unbehaglicher fühlte sie sich. Sie machte eine kleine Wendung, als ob sie gehen wollte, aber er hielt sie zurück.
»Sie scheinen mich wirklich nicht richtig verstanden zu haben, Odette«, sagte er mit seiner weichen und melodischen Stimme.
»Haben Sie mein kleines Buch gelesen?« fragte er plötzlich.
»Ja, ich habe - Verschiedenes darin gelesen«, erwiderte sie, und ihre Wangen färbten sich noch röter.
Er lachte.
»Sie finden es sicher sehr interessant, daß ein Mann in meiner Stellung sich damit abgibt, Gedichte zu schreiben. Aber Sie können sich ja denken, daß das meiste geschrieben wurde, bevor ich die Leitung dieses Geschäftes übernahm - bevor ich Kaufmann wurde!«
Sie antwortete nicht, und er sah sie erwartungsvoll an.
»Was halten Sie denn von den Gedichten?« fragte er nach einer kurzen Pause.
Ihre Lippen zitterten, aber wieder verstand er dieses Zeichen falsch.
»Ich halte sie für entsetzlich«, sagte sie leise, »ich finde kein anderes Wort dafür!«
Er runzelte die Stirn.
»Was Sie doch für ein mittelmäßiges und schlechtes Urteil haben, Miss Rider«, entgegnete er ärgerlich. »Diese Verse werden von den besten Kritikern des Landes mit den schönsten Gedichten der alten Hellenen verglichen.«
Sie wollte sprechen, aber sie beherrschte sich und preßte die Lippen zusammen.
Thornton Lyne zuckte die Schultern und ging in dem mit größtem Luxus ausgestatteten Büro auf und ab.
»Natürlich, die große Masse beurteilt Poesie wie Gemüse«, sagte er nach einer Weile. »Sie müssen sich noch etwas Bildung aneignen, besonders in Literatur. Es wird noch eine Zeit kommen, in der Sie mir dankbar sind, daß ich Ihnen eine Gelegenheit gab, schöne Gedanken in schöner Sprache kennenzulernen.« Sie schaute ihn an.
»Kann ich jetzt gehen, Mr. Lyne?«
»Noch nicht«, erwiderte er kühl. »Sie sagten vorhin, daß Sie mich nicht verstehen könnten. Ich möchte es Ihnen noch einmal etwas deutlicher sagen. Sie sind, wie Sie auch wohl selbst wissen, ein sehr schönes Mädchen. Später werden Sie, wie das in Ihrem Stande so üblich ist, einen Mann mit Durchschnittsverstand und ohne große Bildung heiraten, und Sie werden an seiner Seite ein Leben führen, das in vieler Beziehung dem einer Sklavin ähnelt. Das ist das Schicksal aller Frauen des Mittelstandes, wie Ihnen bekannt sein wird. Wollen Sie auch dieses Los teilen, nur weil irgendein Mann mit schwarzem Rock und weißem Kragen gewisse Worte zu Ihnen spricht, Worte, die weder Bedeutung noch Schicksalsbestimmung für intelligente Menschen haben? Ich würde Ihnen niemals zumuten, eine solche närrische Zeremonie durchzumachen, aber ich würde alles daransetzen, Sie glücklich zu machen.«
Er ging auf sie zu und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zurück, und er lachte.
»Was sagen Sie nun dazu?«
Sie wandte sich plötzlich um, ihre Augen blitzten, aber sie hatte ihre Stimme in der Gewalt.
»Ich bin zufällig eines jener törichten jungen Mädchen aus der Vorstadt, die den Worten bei der Trauung, von denen Sie eben so
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