Lady meines Herzens
zog. Merkwürdig, wie aufregend sich das anfühlte. »Sie sind wirklich ein ehrlicher Gentleman, der einer Lady helfen möchte?«
»Ich habe nur die allerbesten Absichten«, erwiderte er. »Ich bin ein notorisch aufrechter Gentleman. Wenn es Ihnen jedoch lieber ist, rufe ich eine Mietdroschke für Sie. Oder ich überlasse Sie ganz Ihren ursprünglichen Verrichtungen.«
Obwohl es seinen eigenen Interessen widersprach, bot Brandon ihr an, sie allein zu lassen. Dabei wollte er aus für ihn völlig unerklärlichen Gründen ihre Gesellschaft noch nicht so rasch verlieren.
»Ich würde gerne spazieren gehen«, sagte sie. Und dann maß sie ihn mit einem langen, prüfenden Blick, als könnte sie ihm seine moralische Gesinnung von der Nasenspitze ablesen. Schließlich nickte sie, und ihre Lippen verzogen sich zu einem feinen Lächeln. »Sie dürfen mich begleiten, wenn Sie wollen. Aber nur weil Sie eine Entschuldigung brauchen, um die Sonne ein wenig länger zu genießen. Und weil ich Ihnen einen Gefallen schulde.«
»Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte er und atmete aus. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Er wusste, es war für eine Frau eine ziemlich heikle Angelegenheit, wenn sie – noch dazu in der Öffentlichkeit – die Gesellschaft eines Mannes akzeptierte, den sie nicht kannte. Aber er hatte ihr gerade das Leben gerettet, und das schien für ihn zu sprechen. Er vermutete, dass sie ähnlich dachte.
Außerdem war da etwas an ihr, das nach seiner vollen Aufmerksamkeit verlangte. Diese eine Stunde wollte er nicht der perfekte und anständige Gentleman sein.
»Sagen Sie, wo es langgeht, Mylady.«
Sie gingen den Piccadilly entlang Richtung Regent Street und bahnten sich Seite an Seite einen Weg durch die Fußgänger, die die Straßen bevölkerten.
»Ich heiße übrigens Miss Harlow. Ich muss Ihnen noch einmal danken, weil Sie mich gerettet haben. Ich vermute, jetzt sind Sie mein Held«, sagte sie lächelnd.
»Es war mir ein Vergnügen. Nennen Sie mich Brandon«, sagte er. »Ich bin neugierig, Miss Harlow. Was hat Sie so abgelenkt?«
»Ach, das war einfach ein schlimmes Jahr, Mr Brandon.« Sie seufzte tief, und erneut richtete sich sein Blick wie der eines Flegels auf das Heben und Senken ihrer Brüste. Es tat ihm leid, dass sie etwas so sehr quälte, aber er genoss die Auswirkungen ihres tiefen Seufzers.
»Das müssen Sie mir erklären, Miss Harlow«, drängte er. Sie faszinierte ihn mit jeder Minute mehr, die er mit ihr verbringen durfte.
»Letztes Jahr um diese Zeit bin ich fast vor Scham gestorben, und heute bin ich fast wegen meiner eigenen Dummheit gestorben.«
Bei dieser Bemerkung musste Brandon lachen, und sie lächelte auch. Aber dennoch lag etwas Trauriges in ihrem Blick.
»Sind Sie oft so in London unterwegs? Allein und abgelenkt … Oder gibt es heute einen bestimmten Grund dafür?«, fragte er.
»Sie können beruhigt sein, das gehört nicht zu meinen Angewohnheiten.«
»Freut mich zu hören. Haben Sie denn keine Zofe dabei?«
»Normalerweise begleitet sie mich, aber die Umstände machten es heute nicht erforderlich«, sagte sie und blickte beiseite. Ihm war klar, dass sie nicht bloß eine einfältige Frau war, die ihrer Umgebung keine Aufmerksamkeit schenkte. Etwas hatte ihr Kummer bereitet. Deshalb war sie auf der Flucht gewesen.
Brandon wollte genau wissen, was passiert war, damit er das Problem für sie lösen konnte. Er wollte sie vor allem beschützen. Und das, obwohl er sie überhaupt nicht kannte. Es überraschte ihn nicht, wie sie geschickt das Thema wechselte, ehe er ihr seine Hilfe anbieten konnte.
»Ich hasse es, neugierig zu sein, aber darf ich fragen, warum Sie Ihr Zuhause meiden?«, fragte sie höflich.
»Frauen hassen es nie, neugierig zu sein«, vertraute er ihr an. Sie lachte. Es war nicht das anmutigste Lachen, das er je gehört hatte, aber es war echt und darum eine wahre Freude in seinen Ohren.
»Stimmt«, gab sie zu. »Wir behaupten das nur, da es höflicher klingt, während wir zugleich versuchen, alle Geheimnisse der Männer aufzudecken. Also, Mr Brandon, wem gehen Sie daheim aus dem Weg?«
»Meinen Geschäftsbüchern«, antwortete er ehrlich. Und dem Verfassen von Gesetzesentwürfen fürs Parlament, der Verwaltung von sechs Landgütern sowie dem Gewicht der Welt, das auf meinen Schultern lastet.
Und einer Verlobten. Das war einer der triftigsten Gründe, warum er nicht mit Miss Harlow reden sollte. Lady Clarissa
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