Land der Erinnerung
Rußland, wir marschieren ein! Haltet den Mund, ihr Hindus, jetzt ist noch nicht die Zeit, Unabhängigkeit zu verlangen! Hör auf zu kämpfen, China, du behinderst die Entwicklung des freien Handels. Ruhe! Wir stellen die Bombe bereit, die bald die ganze Welt befreien wird.
Inmitten der Korruption etwas ewig Neues, etwas ewig Blühendes, etwas ewig Verführerisches und Verlockendes zu finden: das ist vielleicht das Reizvollste, was Europa für einen Menschen der Neuen Welt bereithält. Hier gibt es nichts, was mich überrascht oder erstaunt. Nichts, gar nichts. Ich weiß, was mich an der nächsten Ecke erwartet, genau wie ich weiß, was mich tausend MeIlen weiter erwartet. Das Vertraute hat nichts Verlockendes, wenigstens nicht für mich.
Man hat mir gesagt, ich sei eine «alte Seele». Möglicherweise. Aber daraus folgt nicht, daß ich gleichgültig, gelangweilt und übersättigt bin. Wenn ich eine alte Seele bin, dann bin ich auch ein Schwärmer. Manche würden mich gerne damit abtun, daß sie mich einen Romantiker nennen, aber sie entdecken bald, daß mein Realismus schockierend ist. Manche erklären, ich sei in den Misthaufen verliebt. Andere sagen, ich versuche in den Mutterleib zurück zu kriechen. Ja, ich gebe es zu: ich interessiere mich für den Mutterleib, für den Mutterleib als den Sitz der Schöpfung. Ich interessiere mich für die Geburt, oder besser - fürs ‹Gebären›. Der Schaffensvorgang ist meine Leidenschaft. Alles, was nichts gebiert, ist für mich tot.
Ich sehe Europa nicht stillstehen. Ich sehe Frankreich nicht in Trägheit verfaulen. Ich verehre es nicht, weil es eine kalte Statue ist, die auf ewig in einen Garten mit hohen Mauern gesperrt wurde. Was mir Eindruck macht, ist die intensive Kultivierung, die in dieser Gartenecke der Welt betrieben wird. Dort wird der Menschengeist genährt, dort blüht er und streut seinen Samen aus. Ein Mensch wird an seinen Früchten erkannt, ebenso ein Volk. Prüft einmal die geistigen Produkte Frankreichs und vergleicht sie mit denen Amerikas oder Rußlands.
Ich selbst brauche nur an irgendeinen gewöhnlichen Tag aus jenen zehn herrlichen Jahren in Frankreich zurückzudenken. Ich brauche nur daran zu denken, was mich begrüßte, wenn ich am Morgen vor die Tür trat. Ich spreche jetzt nicht von den Kathedralen, den Schlössern, den königlichen Gärten, den Museen und Bibliotheken. Ich rede von Kleinigkeiten, von den schlichten Dingen des Alltags. Ich spreche zunächst einmal von der Straße, von ihrem Aussehen um acht Uhr morgens. Sie sieht verschlafen aus, und der graue Himmel verschönt sie nicht. Die Fassaden der Häuser sind verwittert und verblaßt, schrecken aber nicht ab. In der Concierge-Loge singen schon die Kanarienvögel oder nehmen ihr Bad. Die Trottoirs sind von Bäumen gesäumt, und die Vögel schilpen wie wild. Der Duft frischgebackenen Brotes grüßt die Nüstern, die Stände sind voll von Früchten, der Metzger hat seine verlockendsten Stücke ausgestellt. Die Leute tragen ihre Einkäufe in beiden Armen nach Hause. Der Mann im Kiosk verkauft die Morgenausgaben. Es ist friedlicher, eintöniger Alltag, die Nerven beruhigend. Der Tag beginnt nicht mit einem Knall, er schleicht sich ein wie ein junges Mädchen, das die ganze Nacht ausgeblieben ist. Ich gehe von Laden zu Laden und suche mir aus, was ich brauche. Das tue ich für jede Mahlzeit. Gelegentlich esse ich auch in einem der umliegenden Restaurants zu Mittag. Auf dem Heimweg mache ich manchmal halt, um dem Mann im Kiosk meine Aufwartung zu machen; ich kaufe ein Buch, das er empfiehlt, nur um das Vergnügen zu haben, ein wenig länger mit ihm zu plaudern. An der Ecke lasse ich mich für einen schwarzen Kaffee mit einem Schuß Rum nieder. Im Tabakladen mache ich halt, kaufe ein Paket Zigaretten und nehme noch ein Glas. Keine Eile. Der Tag ist unendlich.
Wieder in meinem Zimmer, höre ich einem Grammophon zu, das nebenan spielt. Der Bildhauer gegenüber hackt im Garten auf eine Statue ein. Die ganze Straße ist ruhiger, freudiger Arbeit hingegeben. In jedem Haus gibt es einen Schriftsteller, Maler, Musiker, Bildhauer, Tänzer oder Schauspieler. Die Straße ist so ruhig und trotzdem so betriebsam, auf eine stille, geziemende Weise. Sollte ich nicht auch sagen, auf eine ehrfürchtige Weise? So geht es in meiner Straße zu; aber es gibt in Paris Hunderte solcher Straßen. Eine stehende Armee von Künstlern ist an der Arbeit, die größte, mit der eine Stadt dieser Welt aufwarten kann.
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