Land der Erinnerung
aus, als die amerikanische Küste langsam verschwand. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Ein Jahr Europa war mir gewährt worden. Nur ein einziges Jahr. Doch für mich war es wie eine Verheißung des Paradieses.
Ich sah auf jener Reise viele Länder, und ich genoß sie alle. Ich hätte für den Rest meines Lebens reisen mögen, so wundervoll war es, meinem Vaterland fern zu sein. Ob ich je Heimweh hatte? Nie. Nicht ein einziges Mal. Ich vermißte nichts und niemanden. Meine einzige Hoffnung war, daß ich durch irgendein Wunder für immer in Europa bleiben könnte.
Das war 1928. Ich war damals sechsunddreißig Jahre alt. Ich hatte lange Zeit auf meine Chance gewartet. 1930 war es mir möglich, zurückzukehren und zehn Jahre zu bleiben. Als mich der amerikanische Gesandte in Athen zwang, nach Hause zu fahren, war ich verzweifelt. Ich versuchte jedes Mittel, um von ihm die Erlaubnis zu erhalten, irgendwo anders hinzugehen, nur um nicht nach Amerika zurück zu müssen. Doch er blieb hart. Es geschehe zu meinem eigenen Schutz, erklärte er. «Und wenn ich Ihren Schutz gar nicht will?» fragte ich. Seine Antwort war ein Achselzucken.
Der Tag, an dem das amerikanische Schiff den Hafen von Piräus verließ, war einer der schwärzesten Tage meines Lebens. Es schien, als hätten alle meine Bemühungen, mir ein H neues Leben aufzubauen, zu nichts geführt. Zurück in die Rattenfalle, so sah ich die Sache. Und zurück war ich, daran war nicht zu zweifeln. Zurück in der gleichen verhaßten Straße - «der Straße der frühen Schmerzen» -, wo sich nichts ereignet hatte, seit ich gegangen war, nicht von irgendwelcher Bedeutung. Dieser oder jener hatte geheiratet, dieser oder jener war verrückt geworden, dieser oder jener war gestorben. Nichts, was für mich irgendwelche Bedeutung gehabt hätte. Die Straße selbst sah noch genauso aus, eintönige Gleichheit des bösen Traums, die schlimmer ist als der Sturz in den Orkus. Um es noch schlimmer zu machen, hatte der Krieg jegliche Verbindung mit denen abgeschnitten, die ich in Europa zurückließ. Der einzige Ort, zu dem ich eine lebendige, lebenswichtige Verbindung hatte, war ausgelöscht. Sechs Jahre lang versuche ich nun schon, das Bild der Welt, die ich kannte und liebte, zu rekonstruieren. Tag für Tag frage ich mich, wie sie wohl aussehen mag, wenn ich sie wieder einmal zu Gesicht bekomme. Einige meiner Freunde schreiben, daß ich sie nicht wiedererkennen werde; andere wieder sagen, sie habe sich nicht verändert, nur erschöpft sei sie und arg mitgenommen. Ich weiß, was es heißt, von jemandem, den man liebt, getrennt zu sein, Tag für Tag, jahrein, jahraus auf das Wiedersehen zu hoffen. Ich weiß, was es heißt, ein Bild vor dem Verlöschen zu bewahren, wenn man in seinem Herzen weiß, daß ihm keine Wirklichkeit mehr entspricht. Ich habe mich für die schrecklichsten Ernüchterungen, die grausamsten Enttäuschungen gewappnet. Wie alle hoffnungslos Treuen habe ich mir tausendmal eingeredet: «Es ist doch gleichgültig, wie sie aussieht, wenn ich sie nur noch einmal sehen kann!»
Mit dem gleichen Fieber, der gleichen Beklemmung erwarte ich aufs neue meine Chance. Früher einmal wartete eine Welt voller Versprechungen auf mich, jetzt ist es eine Welt, von der man weiß, daß sie in Trümmern liegt. Es ist, als wenn man auf die Wiedervereinigung mit der Geliebten wartet und jeden Tag liest, wie sie vergewaltigt, ausgehungert, geschlagen und gefoltert wurde. Man weiß, daß man beim Wiedersehen nichts an ihr erkennen wird, außer vielleicht jene Glut der Augen. Vielleicht ist sogar sie erloschen. Vielleicht kommt sie einem auf zwei Beinstümpfen entgegen, ohne Zähne, das Haar weiß, die Augen ohne Licht, der Leib eine einzige schwärende Wunde. Der Gedanke daran läßt mir unwillkürlich einen Schauder durch die Glieder fahren. «Das ist sie?» sagst du. «O Gott, nein, das nicht! Bitte, nur das nicht!» Manchmal wird einem die Geliebte so zurückgegeben. Das sind die besonderen Schrecken, die den Treuen vorbehalten sind. Ich weiß, ich weiß. Ich habe nicht nur die Geschichte Europas studiert, ich habe den Menschen selbst studiert. Ich kenne die Niedertracht, deren er fähig ist. Ich weiß, daß er von allen Entweihern des Lebens der schlimmste, der schamloseste ist. Nur er allein unter allen Geschöpfen Gottes ist fähig, zu zerstören, was er liebt. Nur er ist fähig, sein eigenes Bild zu zerstören.
Die Briefe, die ich von meinen Freunden dort drüben erhalte, sind
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