Land der Erinnerung
unbedeutendsten Dinge, die geringfügigsten Geschehnisse, mit neuen Augen zu sehen. In seinem Heim begann ich zum erstenmal den wahren Sinn der Schöpfung des Menschen zu verstehen. Ich sah, daß sie ein Widerschein des Göttlichen war. Ich sah, daß wir daheim beginnen müssen, mit dem Nächstliegenden, dem Verachteten und als allzu vertraut Übersehenen. Langsam, ganz langsam, als ob Schleier von meinen Augen gezogen würden -und so geschah es wirklich! -, begann ich zu erkennen, daß ich in einem Garten voller Schätze lebte, im Garten Frankreichs, auf den die ganze Welt mit liebenden, verlangenden Augen blickt. Ich verstand, warum die Deutschen, vor allen anderen Europäern, diesen Garten brauchten, warum sie nie aufhörten, gierige Blicke zu ihm hinüberzuwerfen. Ich verstand, warum sie ihn zertrampeln würden, wenn sie ihn nicht selbst besitzen könnten. Ich verstand auch, warum meine eigenen Landsleute weiter in ihm Zuflucht suchen würden, obwohl ihnen (angeblich) alles in der Welt zur Verfügung steht. Ich konnte verstehen, warum sie eines Tages - sei es in Augenblicken des Neids oder der Bitterkeit, sei es aus einem widernatürlichen Heimweh heraus - dieses Paradies einen Zufluchtsort für Betagte und Schwache nennen würden. Ich konnte voraussehen, daß sie eines Tages eben dieses Land, das ihnen Freiheit und Behaglichkeit bot, als ein Bett der Korruption verleugnen oder verleumden würden.
La France vivante ! Warum klingt diese Wendung immerzu in meinen Ohren? Weil in ihr das Hauptmerkmal Frankreichs zum Ausdruck kommt. Selbst im Zustand der Verwesung ist Frankreich immer noch lebendig bis in die Fingerspitzen. Wie oft seit Kriegsende hörte ich schon von den Lippen der Amerikaner: «Aber Frankreich ist doch erledigt.» Ich bin es leid, diese leichtfertigen Defätisten zu widerlegen. Frankreich erledigt? Jamais . Der Gedanke allein ist unfaßbar. Daß Frankreich geschlagen wurde, daß es tief gedemütigt wurde, daß es eine Schuld auf sich genommen hat, die in keinem Verhältnis zu seinem Verbrechen steht (Verbrechen, welches Verbrechen? frage ich), all das läßt sich nicht abstreiten. Daß es aber ausgespielt habe, daß es finished sei, foutu - nein, niemals. Für mich spielt es keine Rolle, ob die Hyänen das Kommando übernommen haben; es spielt letztlich keine Rolle, ob Elemente an die Macht gekommen sind, die nicht die besten Kräfte repräsentieren. Was zählt, ist nur, daß Frankreich immer noch vivante ist, daß der Funke nicht erstickt wurde. Was erwarten wir von einem Land, das fünf lange Jahre unter dem Stiefel des Eroberers lag? Erwarten wir, daß seine Bewohner auf den Straßen Purzelbäume schlagen? (Man denke daran, wie sich unsere eigenen Leute im Süden benahmen, als der Krieg zwischen den Staaten beendet war. Man denke daran, wie sie noch heute empfinden und handeln, achtzig Jahre nachdem sie sich dem Norden ergaben.) Was erwarten wir von Frankreich? Daß sich seine Bürger aus den Gräbern erheben wie die Heiligen am Tag der Kreuzigung? Was die heiteren, unbeschwerten Geister der Neuen Welt nicht begreifen können, ist der Umstand, daß die Franzosen als Volk erst einmal davon überzeugt werden müssen, daß der Kampf mit dem Tod überstanden ist. Für uns mag der Krieg vorbei sein, nicht aber für Frankreich oder für irgendein anderes europäisches Land. Als wir mit unserer hübschen, kleinen Bombe, einer jener Weihnachts-Überraschungen, auf deren Verfertigung sich nur Amerika versteht, wieder einmal «die Welt retteten», vergaßen wir, das Rezept für den ewigen Frieden beizulegen. Wir hüten eifersüchtig die Macht, mit einem Schlag die Welt zu vernichten; aber wir haben nichts zu bieten, was Hoffnung und Begeisterung wecken könnte.
Immer ist Europa der Friedensbrecher. Wir führen (natürlich) nur Krieg, um die Europäer vom Kämpfen abzuhalten. Nach jedem Krieg glaubt man, Europa habe ausgespielt. «Es wird nie wieder das alte sein», unken wir. Und natürlich ist es nie, nie ganz, das alte. Nur hier in Amerika bleibt alles beim alten. Auch nach der größten, tödlichsten Katastrophe befinden wir uns noch immer genau dort, wo wir zuvor waren, jedenfalls geistig. Europa verändert sich mit jeder Krise, die es durchmacht, innerlich wie äußerlich. Nicht nur das Herz wird in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch der Geist und die Seele. Die Verheerungen eines Krieges hinterlassen unausrottbare Spuren. Amerika bleibt immer unversehrt und sicher. Wir fahren fort, Rekordernten,
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