Land der Erinnerung
festlegen, am wenigsten auf all das, was ihn selbst betraf. Als ich seine Bahn kreuzte, schien er bereits die sprichwörtlichen neun Leben einer Katze gelebt zu haben. Bei oberflächlicher Bekanntschaft hätte man sicher gesagt, er habe sein Leben vertan. Er hatte ein paar Bücher in deutscher Sprache geschrieben, aber ob sie veröffentlicht waren oder nicht, wußte niemand. Wenn die Rede auf seine Vergangenheit kam, war er ohnehin immer recht unbestimmt, außer wenn er betrunken war, und dann konnte er sich einen ganzen Abend lang über eine Einzelheit auslassen, zu deren Ausschmückung er gerade in der Stimmung war. Er gab nie zusammenhängende Abschnitte seines Lebens zum besten, nur solche beziehungslosen Details, die er mit dem Geschick und dem Scharfsinn eines Strafverteidigers darzulegen wußte. Er hatte in der Tat so viele Leben geführt, so viele Identitäten angenommen, so viele Rollen gespielt, daß jeder Versuch, das Ganze in den Blick zu bekommen, dem Zusammensetzen eines Puzzlespiels gleichgekommen wäre. Um ehrlich zu sein: er war sich selbst genauso rätselhaft wie anderen. Sein verborgenes Leben war nicht sein Privatleben , da er gar kein privates Leben hatte. Er lebte ständig en marge . Er war limitrophe - eines seiner Lieblingswörter - gegenüber allem; nur sich selbst gegenüber war er nicht limitrophe . In dem ersten Buch, das er auf französisch schrieb ( ‹Sentiments limitrophes› ), gab es mikroskopische Aufschlüsse über seine Jugend, die ans Visionäre grenzten. Ein Abschnitt, der zeigt, wie er im Alter von neun Jahren in seiner Heimat, der Schmelz, zum Leben erwachte, ist ein Meisterstück kortikaler Sektion. An diesem Punkt der Erzählung, die eine Autobiographie aux faits divers ist, hat man das Gefühl, daß er nahe daran war, eine Seele zu zeigen. Doch ein paar Seiten später verliert er sich wieder, und die Seele bleibt in der Unterwelt.
Ein jahrelanger enger Kontakt mit einem Menschen seiner Art hat Vor- und Nachteile. Wenn ich auf die Jahre mit Fred zurückblicke, kommt mir nur das Gute in den Sinn, das aus unserem Bündnis erwuchs. Denn es war mehr ein Bündnis als eine Freundschaft, wenn ich das so sagen darf. Wir waren verbündet, um die Zukunft zu bestehen, die jeden Tag den Hydrakopf drohender Vernichtung zeigte. Nach einiger Zeit kamen wir zu der Überzeugung, daß es keine Situation gäbe, der wir uns nicht stellen und mit der wir nicht fertig werden könnten. Oft müssen wir eher den Eindruck von Verschworenen als von Freunden gemacht haben.
In allem war er der Clown, sogar in der Liebe. Er konnte mich zum Lachen bringen, wenn ich vor Wut kochte. Mir scheint, ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem wir nicht herzlich gelacht hätten, oft bis uns die Tränen in die Augen traten. Die drei Hauptfragen, die wir einander bei jeder Begegnung stellten, lauteten: 1. Haben wir etwas zu essen? 2. Wie war die Puppe im Bett? 3. Schreibst du?
Alles drehte sich um diese drei Bedürfnisse. Am Schreiben war uns am meisten gelegen, aber wir taten immer so, als wären die beiden anderen Dinge wichtiger. Schreiben war eine Konstante, wie das Wetter. Essen und Lieben waren Glückssache: man konnte sich auf keines von beiden ver-. lassen. Geld, sofern wir's hatten, teilten wir bis auf den letzten Franc. Nie wurde gefragt, wem es gehörte. «Haben wir Zaster?» fragten wir, genauso, wie wir fragten: «Haben wir was zu essen?» Wir hatten's oder wir hatten's nicht, und damit war die Sache erledigt. Unsere Freundschaft begann in diesem Ton und blieb so, bis wir uns trennten. Es ist eine so einfache, praktische Art zu leben, daß ich mich frage, warum sie nicht in weltweitem Rahmen versucht wird.
Drei Besitztümer gab es, an die er sich klammerte - trotz aller Leihhäuser und Verluste der dunklen Tage: seine Schreibmaschine, seine Taschenuhr und seinen Füllfederhalter. Jeder einzelne dieser Gegenstände war von bester Qualität, und er pflegte sie, wie ein Maschinist seine Lokomotive gepflegt hätte. Er sagte, es seien Geschenke, Geschenke von Frauen, die er geliebt habe. Vielleicht waren sie das wirklich. Ich weiß, daß er sie hütete. Von der Schreibmaschine konnte er sich am leichtesten trennen -vorübergehend natürlich nur. Eine Zeitlang schien sie mehr in der Pfandleihanstalt zu liegen als chez nous . Das sei gut so, pflegte er zu sagen; es zwinge ihn, mit der Feder zu schreiben. Die Feder war ein Parker-Füllhalter, der schönste, den ich je gesehen hatte. Wenn man ihn bat, ihn
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