Land der Erinnerung
sich über mich lustig machte, nicht über mein schlechtes Französisch - was dies betraf, war er höflich -, sondern über meine Bewunderung für solchen Mist, wie er sich ausdrückte. Mit einem jener plötzlichen Sprünge, die ich gern mache, wenn ich daran verzweifle, mich verständlich zu machen, begann ich von Proust zu reden. «Wie bitte?» sagte er. «Proust», wiederholte ich. «Marcel Proust, celui qui a écrit ‹A la recherche du temps perdu›.» - «Nie gehört», kam höflich zurück, «aber fahren Sie nur fort, ich bin neugierig.» Das nahm mir allen Wind aus den Segeln. Wie sollte ich in meinem ungenügenden Französisch einem Mann, den es offensichtlich einen Dreck interessierte, was ich ihm erzählte, das Werk eines Autors wie Proust erklären? Ich wußte, daß er mir seine Aufmerksamkeit nur schenken würde, bis er seine Mahlzeit beendet hätte, daß er sich dann höflich entschuldigen und mich in der Mitte eines komplizierten Satzes mit einem Konjunktiv einfach sitzenlassen würde. Glücklicherweise kamen mir, gerade als ich mir den Wortschwall zurechtlegte, mit dem ich beginnen wollte, ein paar Studenten an einem benachbarten Tisch unter Lachsalven zur Hilfe. Einen Augenblick meinte ich, sie lachten über mich; doch nein, sie richteten ihre Ausfälle gegen den commerçant . Was! Er habe noch nie von Marcel Proust gehört? Was er denn sei, ein Schweinehändler? Ob er sich nicht schäme, daß ihn ein Amerikaner über seine eigene Literatur aufklären müsse? Sie kanzelten ihn ohne Gnade ab und zwinkerten mir dabei ständig insgeheim zu. Der arme Kerl beendete gar nicht erst seine Mahlzeit; er floh vorzeitig.
Kaum hatte er das Lokal verlassen, als mir die Studenten Zeichen machten, ich möge mich zu ihnen setzen. Es wäre ihnen eine Ehre, wenn ich einen Kaffee und einen Schnaps mit ihnen tränke. «Quel con, célui-là!» meinte einer von ihnen. «Vom étiez épatant!» sagte ein anderer. «Sind Sie vielleicht Schriftsteller?» warf ein dritter ein. Nun, wir saßen eine Stunde oder länger dort und sprachen über Gott und die Welt. Sie interessierten sich sehr für den surrealistischen Film. Wie ich dazu gekommen sei, Proust zu lesen? Ob er übersetzt sei? Was mich nach Frankreich bringe und worin der Unterschied zwischen New York und Paris bestehe? Die Sprache bot keine Hindernisse mehr. Was ich nicht in Worten ausdrücken konnte, das machte ich durch Gesten deutlich. Manchmal ertappte ich mich dabei, höchst komplizierte Dinge auf die läppischste Weise auszudrücken. Aber sie verstanden mich. An ihren Reaktionen spürte ich, daß sie mich verstanden.
So geht es mir auch mit Rimbaud. Ich spüre an meiner Reaktion auf seine Verse, daß sie einen Sinn haben. Sogar die sinnlosen Zeilen. Doch ganz besonders spüre ich bei einem Gedicht wie ‹ Départ› die Entsprechung zwischen dem Unbekannten in mir und dem Unbekannten in einem anderen. Es ist nicht mehr eine Frage der Landschaft, der inneren oder äußeren, sondern vielmehr eine des Niveaus, der Ordnungen und Hierarchien. Es spricht jemand zu mir über den leeren Raum hinweg. Es ist eine geheimnisvolle Sprache, für die ich ein anderes Paar Ohren brauche. Wo finde ich das richtige Paar? Warum so ungeduldig? Könnte ich nicht warten, bis ich das Französische besser beherrsche? Nein! Tausendmal Nein! Jetzt muß ich es haben, sofort. Es geht um Leben oder Tod.
Wenn du in eine Frau, die eine fremde Sprache spricht, hoffnungslos verliebt wärest - du würdest Mittel und Wege finden, sie zu verstehen, nicht wahr? Vielleicht hinkt der Vergleich. Um Rimbaud lieben zu können, muß man zuerst die Schönheit seiner Sprache erfaßt haben. Es zog mich zu ihm auf den ersten Blick, wie einen mondsüchtigen Liebhaber. Ich schloß ihn ins Herz, noch ehe ich ihn verstand. Ist es wirklich nötig, solche Dinge zu erklären? Wie kann ich den Skeptiker davon überzeugen, daß ich von Cendrars' ‹Moravagine› hingerissen war, trotz der Tatsache, daß ich fast jedes zweite Wort im Wörterbuch nachschlagen mußte? Wie kommt es, daß man sofort weiß, ob einem etwas nach dem Herzen ist? Warum bin ich trotz der Bekundungen der besten Kritiker immer noch unfähig, Stendhal oder Sterne oder sogar Homer zu lesen? Warum versuche ich immer und immer wieder, den Marquis de Sade zu lesen, obwohl ich weiß, daß meine Bemühungen jedesmal im Sand verlaufen werden? Aus irgendeinem unerklärlichen Grund glaube ich alles, was man an Gutem über de Sade sagt. So ist es auch bei
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