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Land der Erinnerung

Land der Erinnerung

Titel: Land der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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studiert, ich habe den Menschen selbst studiert. Ich kenne die Niedertracht, deren er fähig ist. Ich weiß, daß er von allen Entweihern des Lebens der schlimmste, der schamloseste ist. Nur er allein unter allen Geschöpfen Gottes ist fähig, zu zerstören, was er liebt. Nur er ist fähig, sein eigenes Bild zu zerstören.

    Die Briefe, die ich von meinen Freunden dort drüben erhalte, sind herzzerreißend. Sie sprechen nicht von ihren körperlichen Leiden, nicht von dem Mangel an Essen und Kleidung. Nein, sie sprechen von der Leere der Zukunft. Sie sprechen von dem Abhandensein von etwas, das sie einmal für unerläßlich hielten, von jenem unfaßbaren Etwas, das von irgendwo und überallher kam, und das sie in den dunkelsten Stunden, in der Niederlage selbst aufrechthielt. Dieses Etwas scheint verschwunden zu sein. Es «scheint», sage ich. Ich glaube ihnen noch immer nicht ganz. Ich muß es mit eigenen 35
    Augen sehen, muß in meiner eigenen Seele erfahren. Bevor ich diese entsetzliche Wahrheit zugeben kann, muß ich auch dieser schrecklichen Verzweiflung, diesem quälenden Gefühl der Aussichtslosigkeit erliegen. Europa hat vieles überlebt, so vieles. Ist es möglich, daß es den letzten Tropfen Mut verloren hat, das letzte Gramm Hoffnung? Ist das wirklich das Ende?

    Für meine Freunde dort drüben ist es vielleicht das Ende. Es ist aber nicht das wirkliche Ende, nicht «das Ende aller Menschen»! Ich weigere mich, das zu glauben. Pr é sence de la mort, out. Mais pas la fin . Der Mensch kennt kein Ende, so wenig wie er einen Anfang kennt. Der Mensch ist. Er ist so unvergänglich wie die Sterne.

    «Ja», stimmen mir einige Freunde zu, «der Mensch
    bleibt, er wird weiterbestehen. Aber was für ein Mensch? Wir haben das Gesicht des Ungeheuers gesehen. Wir wollen nichts mit dieser neuen Rasse zu tun haben. Lieber wollen wir untergehen.»

    Natürlich meinen sie damit nicht den Feind. Der Feind ist schon vergessen. Sie reden von der neuen Brut in ihrer eigenen Mitte. Sie meinen Menschen, die sie noch vor einem Jahr, vor einer Woche, ja gestern noch als Kameraden, Brüder, Freunde betrachteten. Sie reden von der großen Veränderung, die eingetreten ist, von einem unnatürlichen Schisma, als ob sich der Mensch plötzlich in zwei verschiedene Wesen gespalten hätte, jedes entschlossen, das andere zu morden. Sie sehen, daß diese Teilung nicht nur zwischen Mensch und Mensch, Freund und Freund, Bruder und Bruder, Kamerad und Kamerad stattfindet, sondern in der Seele jedes einzelnen. Der ewige Widerstreit zwischen Ungeheuer und Engel wird jetzt offen sichtbar. So sehen sie es. Das ist es, was sie lähmt. «Die Zeit der Mörder» ist gekommen, und mit ihr die große Spaltung.
    Die Welt ist nicht mehr fähig, ihre Angst zu bergen. Furcht, namenlos und unbändig, ist ausgebrochen. Das Weltenei wankt auf seiner unsicheren Spitze. Stehen wir vor einer Periode des allgemeinen Chaos? Oder werden die Götter in all ihrer Pracht noch einmal durch die Schale des Eis brechen?

    Wenn ich an die ruhmreichen Namen denke, die die Seiten des 36
    offenen Buches ‹Europa› übersäen, dann denke ich an die geistige Atmosphäre, die jeden von ihnen umgibt. Bei jeder großen Leistung, sei es auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Religion, Kunst oder Politik, sorgte die Umwelt dafür, daß der Schöpfungsakt einen Kampf erforderte, der dem Kampf der Geburt oder des Todes vergleichbar ist. Trotz all der großen Worte über Kultur und Zivilisation mußten die genialen Männer, die Europa zu dem machten, was es ist, für den Beitrag, den sie leisteten, mit ihrem Lebensblut zahlen. Selten genug wurde es diesen großen Menschheitsführern leicht gemacht, ihr Ziel zu verfolgen. Für sie war die Zeit immer aus den Fu-gen. In der Rückschau auf jene Epochen, jene entscheidenden Perioden der Vergangenheit, ist es leicht, das Emporkommen ebenso Gestalten und die Rollen, die sie spielten, zu verstehen.
    Doch für sie selber war es oft, als seien sie in Dunkelheit geboren. Da war nicht nur die ständige Drohung von Verfolgung und Tod, auch die Sicherheit der Nation selbst war immer bedroht. Kriege, Revolutionen, Spaltungen aller Art waren an der Tagesordnung. Nie waren die Lebensbedingungen der Massen anders als unsicher und erniedrigend. Unwissenheit, Bigotterie und Aberglaube regierten in allen Jahrhunderten.
    Europa bietet ein schwarzes Bild, wenn man einen langen Blick den Korridor der Zeit hinunter wirft. Es ist, als träte man aus einem

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