Land der Erinnerung
glänzenden, erleuchteten Raum in die Dunkelheit.
Für eine kurze Übergangszeit ist der Glanz des Himmels ge-dämpft. Doch wenn sich die Augen an das milde Licht ferner Sonnen gewöhnt haben, erwacht ein Gefühl von Größe, Un-endlichkeit und Ewigkeit. Man ahnt, daß die weiten Bereiche des Weltenraumes, in denen unser kleiner Planet schwimmt, von unerschöpflichem Licht durchflutet werden. Man vergißt die gemeine Grelle jener einen Sonne, die den Tag beherrscht; man ist geblendet und ergriffen von der Pracht dieser funkeln-den Welten, die aus weiten Fernen zu uns sprechen und nie aufhören, uns in ihren Strahlen zu baden. In der Stille der Nacht stärkt uns das Licht der Sterne auf eine unbeschreibliche Weise. In solchen Augenblicken werden wir zum Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft, wir geraten außer uns und werden eins mit dem Kosmos. Angesichts ihrer ewigen Dauer empfinden wir, daß nichts von Bedeutung ist. Nichts 37
von dem, was wir tun, wird irgendetwas verändern: auch das ahnen wir zutiefst. Wir sollen nur mit dem Licht unseres eigenen Seins leuchten wie die Sterne - jeder einzelne eine Sonne.
Ich habe oft gedacht, daß jene gemeine Grelle, die den amerikanischen Schauplatz erhellt, die Folge unserer Wei-gerung war, etwas anderes als eine Tagwelt anzuerkennen.
Unsere Gesichter haben die Starre des Hypnotisierten, der den Befehlen eines unsichtbaren Geistes gehorcht. Wir weigern uns, den Tatsachen ins Auge zu blicken, oder vielmehr hinter ihnen nach der Wirklichkeit zu suchen, die sie beseelt. Wir sind ein Volk, das Schlaf als Zeitverschwendung betrachtet.
Wir machen die Nacht zum Tag, wie Kinder, die das Dunkel fürchten. Für uns ist die dunkle Welt jene Welt, von der wir widerstrebend zugeben, daß wir sie nicht lenken können. Es tut uns weh, zuzugeben, daß es Bereiche gibt, die jenseits unseres Gesichtskreises liegen, die wir weder beherrschen noch usurpieren können. Künstlich beleuchtet, tragen wir unsere rohe und gemeine Tagwelt überall mit uns herum.
Im Vergleich damit erscheint uns Europa als eine sty-gische Unterwelt. Es ist der Bereich, in dem geheimnisvolle und nicht voraussagbare Dinge geschehen, die meistens von unangenehmer Art sind. Es ist in einem Zustand ständigen Aufruhrs, ständiger Qual. Es scheint auf dem Tod zu gedeihen.
Eine gesegnete Welt, zugegeben, in der wir uns in Augenblicken der Mattigkeit sinken lassen, um unsere Sinne zu weiden.
Eine Welt der Sünden und der Verderbtheit, die weichliche Vergnügungen hervorbringt und Dämonen von unerwarteter Macht und Verführungskraft ausspeit.
Europa ist der Schmelztiegel, nicht Amerika. Dort
wird alles erprobt, auf Kosten der Welt. All die sonderbaren Erscheinungen, die unsere Zeit charakterisieren, haben ihren Brennpunkt in Europa. Eine Bombe, die in Sarajevo geworfen wird, setzt die Welt in Flammen. Ein Träumer in einem winzigen europäischen Dorf erzeugt ein Echo, das jahrhundertelang zu hören ist. Die Schwingungen, die Europa ausschickt, beein-flussen die Welt fast augenblicklich. Es ist der Mittelpunkt und der Drehpunkt dieser sich ständig verändernden Welt.
Amerika, das anscheinend dazu ausersehen ist, die Rolle des Stoßdämpfers zu spielen, reagiert nur, hier werden keine Be-38
wegungen erzeugt oder in Gang gesetzt, die das Gleichgewicht der Welt stören oder wiederherstellen. Große Bewegungen, große Ereignisse werden im Dunkeln hervorgebracht, an den geheimen Stellen des Blutes.
Trotz des Chaos, das den europäischen Schauplatz
zurzeit beherrscht, besteht immer noch die Vorstellung, daß alles zusammen «einen Leib», einen lebendigen Organismus bildet. Europa ist im Geist zentrifugal; es sammelt in der Welt Kräfte. Wenn Amerika das Kraftwerk der Welt ist, dann kann man Europa wohl als deren Sonnengeflecht bezeichnen. Jeder Europäer spürt die Gegenwart dieses unsichtbaren Dynamos, dieser unterdrückten Sonne gleichsam. Das hält ihn lebendig, gefährlich lebendig. Was den genialen Europäer betrifft, so stellt er eine besonders beunruhigende Kraft dar. Er will stets alles umgestalten, immer versucht er die Welt von innen heraus zu verwandeln. In Europa kann es keinen Frieden geben, nie, nicht in dem Sinne, in dem Amerikaner das Wort verstehen. Für Europa würde Friede Tod bedeuten: es würde heißen, daß der Dynamo sich nicht mehr drehte. Nein, Europa wünscht sich nicht die Rückkehr des hellen Tageslichtes, in dem alles mit Gleichmut betrachtet wird. Es will keine Tagwelt
Weitere Kostenlose Bücher