Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
bedrohliche Augen an, in denen eindringlicher, konzentrierter Hass stand. Darunter klaffte ein breites, mit spitzen, dreieckigen in Mehrfachreihen aus dem Kiefer ragenden Zähnen bewehrtes Maul.
Das Geschöpf ließ ein ebenso raues wie tiefes und rasselndes Keuchen hören. Ein Waldschrat. Geboren aus Hass und Magie, ein wandelnder Fluch, der seine Kraft aus dem Zorn seines Schöpfers bezog. Irgendwer hatte ein Stück Land oder ein Haus in der Nähe verhext, und der Wald verlieh dem Fluch nun Gestalt und Ziel: alles zu töten, was ihm in die Quere kam.
Auf dem Baum wimmerte Kenny wie ein Kätzchen.
Der Waldschrat riss sein Maul weiter auf und trat vor, seine Gefährlichkeit umgab ihn wie eine faulige Korona. Er wollte sie umbringen, sich einen Batzen von ihrem Fleisch einverleiben.
Rose hob die rechte Hand.
Der Waldschrat fauchte, spreizte die verdrehten Gliedmaßen und zeigte gelbe Krallen.
Ein heller magischer Schimmer hüllte Rose’ Finger ein. Die Magie in ihr vibrierte bis zum Anschlag.
Da ging der Waldschrat auf sie los, der schwarze Schlund gähnte, Zähne und Klauen bereit, sie in Stücke zu reißen.
Rose schleuderte ihren Blitz. Ein magischer Lichtbogen schoss weiß aus ihrer Hand und traf das Geschöpf in die Brust. Der Schwung seiner Bewegung trieb den Waldschrat noch einen Schritt weiter, doch die eisig weiße Lohe des Blitzes entfachte ihn, brannte sich auf der Suche nach dem von Bösartigkeit umhüllten Kern durch seinen Brustkorb. Das Wesen in Stücke zu reißen würde nicht genügen. Sie musste den Fluch selbst vernichten.
Der Waldschrat verspritzte Fleischfetzen. Rose kam voran, ließ mit ihrem Lichtbogen nicht von dem Geschöpf ab. Die Anspannung pochte in ihrem Arm.
Der Waldschrat brach auseinander und gab ein winziges dunkles Staubkorn frei, um das grelle violette und purpurne Blitze kreisten. Rose ballte die Faust. Der weiße Lichtbogen umschloss die Dunkelheit. Sie biss die Zähne zusammen, ballte die Faust, bis sich ihre Nägel in die Handfläche gruben. Mit dem Geräusch einer aufbrechenden Walnuss fiel das Staubkorn in einem Schauer weißer Funken in sich zusammen und verging.
Rose atmete auf, trat über das auf dem Waldboden verstreute Aas hinweg und ging zu dem Baum. »Komm her«, sagte sie mit ausgestreckten Händen.
Kenny rührte sich nicht von der Stelle. Einen Moment lang dachte sie, sie würde seine Mutter holen müssen, doch dann ließ er plötzlich los und rutschte an dem Baumstamm herunter. Dabei schürfte er sich an der Borke die Haut ab, landete jedoch endlich sicher in ihren Armen. Weil er zu schwer war, musste sie ihn auf die Füße stellen.
»Er ist weg«, sagte sie und nahm in die Arme. »Mausetot. Hörst du?«
Er nickte.
»Der kommt nicht wieder. Aber wenn du noch mal so einen siehst, läufst du, so schnell du kannst, zu meinem Haus. Ich töte ihn dann. Und jetzt ab nach Hause.«
In einem Affenzahn rannte er die Straße hinunter und scherte dann nach links zum Haus der Ogletrees aus.
Rose betrachtete das im Dreck verspritzte Aas. Nur eine Handvoll Familien konnte einen Magiekundigen vorweisen, dessen Macht ausreichte, einen Waldschrat zu erschaffen, und bei denen, die dazu in der Lage waren, handelte es sich um ältere Leute, die es eigentlich besser wissen mussten. Ein Waldschrat ließ sich nicht aufhalten, die Art Waffe, die alles plattmachte, was sich ihr in den Weg stellte. Rose hatte schon seit Jahren keinen mehr gesehen. Und als das letzte Mal so ein Biest auftauchte, war ein veritabler Suchtrupp nötig gewesen, um es mit Benzin und Fackeln zur Strecke zu bringen.
Um einen Waldschrat zum Leben zu erwecken, musste bei einem der Einheimischen irgendwas gründlich falsch gelaufen sein. Irgendetwas Entsetzliches war hier im Gange. Das Gefühl der Bedrohung griff ihr eiskalt in den Nacken. Einen Moment lang dachte sie daran, Kenny Jo nachzugehen, um herauszufinden, ob Leanne irgendetwas über diese Sache wusste, entschied sich dann aber dagegen. Sarah hatte kurz nach der Highschool gut geheiratet und war in ein nettes Häuschen im Broken gezogen. Gerüchten zufolge war Leanne in Sarahs neuem Traumhaus nicht gerne gesehen, was ihre Wut auf das Leben noch größer machte, als sie es ohnehin gewesen war. Rose und sie hatten seit der Highschool nicht mehr miteinander gesprochen. Sie bezweifelte daher ernsthaft, dass Leanne sich ihr anvertrauen würde.
Rose machte sich nun zügig auf den Heimweg. Je schneller sie dort ankam, desto eher konnte sie sich davon
Weitere Kostenlose Bücher