Land der Schatten - Andrews, I: Land der Schatten
überzeugen, dass die Jungen in Sicherheit waren.
In East Laporte geschah kaum etwas, ohne dass Großmama Éléonore darüber Bescheid wusste. Also würde sie am besten ihre Großmutter fragen.
» Mémère ?«
Éléonore betrachtete Georgies Gesicht. Er hatte ihr nie erklärt, woher er wusste, dass sie so genannt wurde. Sie hatte mit den Kindern niemals ein Wort Französisch gesprochen. Trotzdem hatte Georgie diesen Namen mit zwei zum ersten Mal benutzt, mit einem leichten provenzalischen Akzent. Sie hatte den Eindruck, dass er selbst nicht wusste, warum er das tat, doch jedes Mal, wenn er dieses Wort aussprach, entführte es sie in die trockenen, warmen Hügel, wo sie neben ihrer eigenen grandmère in der Sonne saß, am fougasse nippte, der einen vagen Orangengeschmack auf ihrer Zunge hinterließ, und den Männern zuschaute, die unten im Dorf mit der Anmut von Balletttänzern la lounge spielten.
Sie lächelte den Jungen an. »Was gibt’s denn?«
»Dürfen wir raus?«
Zwei Augenpaare blinzelten sie aus Engelsgesichtern an. Georgies blaue und Jacks bernsteinfarbene. Rabauken alle beide. »Aber es ist dunkel.«
»Wir gehen nicht weiter als bis zu den Wehrsteinen.«
Sie verdrehte die Augen. »Ah, ihr glaubt wohl, ich bin gestern erst vom Baum gefallen?«
»Bitteeee.« Auf Georgies Blick hätte jedes Schoßhündchen stolz sein können. Jack hinter ihm nickte entschieden.
»Na gut.« Ehe ihr das Herz brach, gab sie lieber nach. Rose wäre zwar nicht allzu begeistert, wenn sie davon erfuhr, aber was Rose nicht weiß, macht sie nicht heiß, lautete die Devise. »Aber ich traue euch nicht. Ich komme besser mit auf die Veranda.«
Doch sie waren schon zur Tür hinaus, ehe sie aus ihrem Sessel aufgestanden war.
Éléonore nahm ihre Teetasse mit auf die Veranda. Der alte Schaukelstuhl knarrte unter ihrem Gewicht. Die Jungen flitzten in den Vorgarten.
Der Wald jenseits der Wehrsteinlinie pulsierte vor Leben. Der Himmel hatte sich bereits zu einem tiefen, beruhigenden Purpurrot verdunkelt, die Blätter der oberen Zweige hoben sich fast schwarz dagegen ab und raschelten leise im kühlen Tuscheln des Abendwinds. Hier und da blühten die weißen Dolden der Nachtkerzen zwischen den Bäumen. Ihre Stängel, die tagsüber kaum mehr als grüne Triebe waren, ließen bei der ersten Berührung mit der Dunkelheit Kaskaden zarter, glockenförmiger Blüten erkennen und tränkten die Abendluft mit dem Mimosenduft, den Éléonore jetzt lächelnd einatmete.
Ein Idyll …
Doch dann entstand in ihrem Genick ein Unbehagen und setzte sich in einem winterlichen Schauder das Rückgrat hinunter fort. Sie spürte, dass jemand sie anstarrte, als trüge sie eine Zielscheibe zwischen den Schulterblättern. Éléonore drehte sich um und musterte die Wehrlinie.
Dort. Links, am äußersten Ende ihres Blickfelds, schwebte etwas wie ein dunkler Fleck. Es stand auf allen vieren, kompakt und undurchdringlich wie ein ins Gewebe der Nacht gestanztes Loch, das eine urzeitliche Finsternis offenbarte. Sie konnte es in der Dunkelheit kaum erkennen, die Silhouette eher eine Ahnung als Gewissheit.
Éléonores Finger fanden den kleinen hölzernen Talisman an ihrem Hals. Sie umfasste ihn fest und flüsterte: »Sicht.«
Flach aufgefächert ging pulsierende Magie von ihr aus und zoomte die Landschaft und die Kreatur schlagartig in ihr Blickfeld. Sie sah Dunkelheit und darin einen schmalen Augenschlitz: fahl, schwach grau leuchtend, ohne Iris oder Pupille. Sie versuchte, darüber hinaus zu blicken, und erkannte einen vagen Umriss, von dem eine unbekannte Gewalt ausging. Ihre Sinne schlugen Alarm. Dann ruckte das Auge außer Sicht. Éléonore ließ den Talisman gerade rechtzeitig los, um noch einen verschwommenen dunklen Fleck auszumachen, als die Kreatur ohne einen Laut im Unterholz verschwand.
Der Wald bot vielem eine Heimat, aber Éléonore hatte noch nie etwas dermaßen bestürzend Fremdartiges gesehen. Sie hielt nach den Kindern auf der Wiese Ausschau. Die befanden sich hinter den schützenden Steinen in Sicherheit. Es wird schon gehen, sagte sie sich. Die Wehre rings um Rose’ Haus waren stark und alt, die Zaubersprüche tief im Erdreich verwurzelt. Außerdem würde Rose jede Minute die Straße heraufkommen, und Éléonore tat jedes Ungeheuer aufrichtig leid, das sich zwischen sie und die Kinder zu stellen wagte.
Wahrscheinlich nur irgendeine sonderbare, vom Wald ausgespiene Kreatur. Der Forst erstreckte sich westlich von East Laporte bis ins Weird
Weitere Kostenlose Bücher