Land der wilden Sehnsucht
sanfter Stimme. „Ich hatte Mark gern.“ Das entsprach zwar nicht der Wahrheit, aber sollte man über die Toten nicht nur Gutes sagen?
Zu Beginn hatte sie sich die größte Mühe gegeben, Mark gernzuhaben, dabei war ihr ein bestimmter Ausdruck in seinen Augen immer unheimlich gewesen. Dafür hatte sich ihre Cousine unsterblich in ihn verliebt und die angeblich feindselige Einstellung der Familie Mark gegenüber auf sich übertragen.
„Danke, Miss Fleury.“
Ihre leise Stimme und ihr kanadischer Akzent gefielen Blaine. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. War in Marks Brief nicht merkwürdig viel von Amandas Brautjungfer die Rede gewesen? Hilary hatte sich damals sehr darüber gewundert.
Sienna hatte ihn weiter beobachtet, und die Veränderung in seiner Haltung entging ihr nicht. Was mochte der Grund dafür sein? Nach Marks Aussage waren die Brüder erklärte Feinde gewesen. Amanda hatte ihm geglaubt und keinen Versuch gemacht, seine Familie kennenzulernen oder eine Aussöhnung herbeizuführen. Sie hatte sogar hartnäckig dafür plädiert, Marks Tod zu verschweigen, aber damit hätte sie alle Anstandsregeln verletzt. Sienna hatte ihren Vater, Lucien Fleury – einen der bekanntesten Maler Kanadas –, gebeten, an Amandas Stelle in Australien anzurufen.
„Sie war schon immer schwierig … unsere arme kleine Mandy“, hatte er gesagt und damit noch untertrieben. Sonst neigte er nicht dazu, die Dinge zu beschönigen.
Amanda war seine Nichte. Seine Schwester Corinne und ihr Mann waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Siennas Eltern, Lucien und Francine, hatten die verwaiste fünfjährige Amanda zu sich genommen und gemeinsam mit der anderthalb Jahre älteren Sienna und ihrem vergötterten Bruder Emile großgezogen. Er war inzwischen ein angesehener Architekt und lebte in New York.
Blaines tiefe Stimme, in der ein harter Unterton mitschwang, riss sie aus ihren Gedanken. Er sprach ein sehr gepflegtes Englisch ohne australischen Akzent.
„Sollen wir vor dem Essen etwas trinken?“ Er sah sie mit seinen hellen Augen durchdringend an, ohne zum Ausdruck zu bringen, was er von ihr und ihrer unrühmlichen Rolle als Amandas Vertreterin hielt.
„Gern.“
Was hätte sie sonst erwidern können? Sie empfand ihn als genauso bedrohlich, wie Mark ihn beschrieben hatte. Doch er trauerte um seinen Bruder, deshalb musste sie nachsichtig mit ihm sein.
Blaine half Sienna aus dem Kaschmirmantel und nahm ihr auch den gelben Schal ab, den sie um den Hals getragen hatte. Sie war lange nicht mehr in diesem eleganten Hotel gewesen und sah sich erfreut um. Die Einrichtung war betont europäisch: Wandverkleidungen aus dunkel glänzendem Holz, bequem aussehende Polstermöbel, hier und da einige antike Stücke, aufwendiger Blumenschmuck und wertvolle Bilder in der Halle und in den Fluren.
Blaine rückte ihr einen Stuhl zurecht. Sie setzte sich hin und strich ihr langes sienafarbenes Haar zurück.
„Was möchten Sie trinken?“ Er schien von ihrer schimmernden Haarpracht wie gebannt zu sein, wandte sich schließlich aber der Bar zu, die eine ganze Wand einnahm.
„Vielleicht einen Weinbrandcocktail.“ Lieber hätte sie allerdings gar nichts genommen.
Blaine entschied sich für einen Cognac. Sienna vermied es, ihn direkt anzusehen, denn er war unleugbar der aufregendste Mann, der ihr je begegnet war, trotz seines strengen Gesichtsausdrucks. Trauerte er um seinen Bruder? Machte er sich Vorwürfe? Dachte er daran, was er versäumt hatte?
Er hatte einen maßgeschneiderten dunklen Anzug an und dazu eine Seidenkrawatte umgebunden, die ihr ausnehmend gut gefiel. In Rancherkleidung würde er wahrscheinlich genauso gut aussehen, ging es ihr durch den Kopf. Große, schlanke Männer konnten alles tragen. Seltsamerweise besaß er keinerlei Ähnlichkeit mit Mark. Der hatte mittelblondes Haar und dunkelbraune Augen gehabt und war nur einen Meter fünfundsiebzig groß gewesen. Blaine Kilcullen war wirklich ein schöner Mann. Das volle Haar fiel ihm in die Stirn, die dichten Brauen wirkten fast schwarz und standen im krassen Gegensatz zu seinen hellen Augen, die an glitzerndes Eis denken ließen.
Die Getränke wurden gebracht. Sienna wusste, dass die Unterhaltung schwierig sein würde, zumal sie das Ganze eigentlich nichts anging. Amanda war Marks Witwe. Es wäre ihre Aufgabe gewesen, den Abgesandten von Marks Familie zu empfangen. Leider hatte sie sich wieder auf die übliche Art herausgeredet. Wenn es ihr passte, wurde sie hysterisch.
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