Internat Lindenberg - Achtung, es spukt
Ein neues Schuljahr
Leonie presste ihre Stirn gegen das kühle Fenster ihres Zugabteils. Missmutig starrte sie auf die graue, verregnete Landschaft. Das Wetter passte bestens zum Datum. Der letzte Ferientag war immer ein besonders trübsinniger Tag. Besonders wenn man in einem Internat lebte. Leonie seufzte. Vor Weihnachten würde sie ihre Familie wahrscheinlich nicht wiedersehen.
Inzwischen fuhr sie schon drei Stunden mit dem Zug nach Norden zum Internat Lindenberg. Sie schaute auf die Uhr. Gleich musste sie ankommen. Ein Blick aus dem Fenster half ihr nicht weiter. Der Regen war noch stärker geworden und man konnte kaum etwas erkennen. So schön die Strecke bei Sonnenschein war, so trist war sie heute. Aber ihr Zeitgefühl trog sie nicht. Der Zug bremste bereits ab.
Seufzend packte Leonie ihr Tagebuch wieder in das Seitenfach des Koffers. Die ganze Strecke über hatte es auf ihren Knien gelegen, aber Leonie hatte keine Zeile geschrieben. Zu viele Gedanken waren ihr durch den Kopf geschossen. Die meiste Zeit musste sie sich an das letzte Jahr zurückerinnern, als sie das erste Mal nach Lindenberg unterwegs gewesen war.
Der Zug kam quietschend zum Stehen. Leonie packte ihren Koffer und eilte zum Ausgang. Der Zug war schon die ganze Zeit über fast leer gewesen und nun war sie die Einzige, die ausstieg. Es gab ja auch wirklich keinen Grund, hier auszusteigen. Bei schönem Wetter waren oft noch ein paar Touristen unterwegs. Aber außer Spazieren gehen konnte man in der winzigen Kleinstadt nichts unternehmen.
Ohne große Hoffnung blickte sie sich noch einmal um, doch da war außer ihr niemand mehr. Keine Mitschülerin, die sie vorher übersehen hatte, auch keine anderen Fahrgäste. Aber Moment mal, da war doch jemand! Der Hausmeister ihres Internats, der sie vom Bahnhof abholen sollte, war mit seinem schäbigen Lieferwagen vorgefahren. Herr Radtke war ein brummeliger, schweigsamer Typ. Leonie fand, er sah älter aus als seine zweiunddreißig Jahre. Vielleicht würde es helfen, wenn er sich mal rasieren würde. Aber das schien er äußerst ungern zu tun.
Herr Radtke begrüßte sie mit einem knappen Nicken und einem mürrischen „Tach“. Mehr sagte er nicht und Leonie war sicher, viel mehr würde er bis zur Ankunft im Internat auch nicht sagen. Reden gehörte ganz bestimmt nicht zu seinen Stärken.
Ob er wirklich mal im Gefängnis gesessen hatte, wie manche behaupteten, wusste Leonie nicht. Ebenso wenig, ob e r – wie andere aus angeblich todsicheren Quellen wusste n – in der Fremdenlegion gedient hatte. Leonie war der Sache nie auf den Grund gegangen. Ein muffiger, zwielichtiger Typ war Radtke zwar, das war sicher. Aber auf Muffigkeit stand schließlich kein Gefängnis und Leonie hatte jetzt ohnehin keine große Lust auf Gespräche.
Sie hatte es geschafft, die letzten drei Stunden, nachdem ihre Mutter sie am Bahnhof abgesetzt hatte, ohne Unterhaltung zu verbringen, da kam es auf eine Viertelstunde mehr oder weniger jetzt auch nicht mehr an.
Leonie war es gewohnt, allein unterwegs zu sein. Das lag einerseits daran, dass ihre Mitschülerinnen alle aus verschiedenen Richtungen anreisten, und andererseits daran, dass sie nicht mit dem Zug fuhren.
Sprich, es lag an der Sparsamkeit ihrer Eltern. Als Inhaber einer gut gehenden Zahnradfabrik im Schwäbischen hätten sie es sich natürlich leisten können, ihre Tochter von einem uniformierten Chauffeur in einer großen Limousine zur Schule kutschieren zu lassen. Aber Verschwendung war ihnen ein Graus. Und selbst fahren? Zeit ist bekanntlich auch Geld.
„Dieser Harry aus dem Buch, oder wie der heißt, der fährt doch auch immer mit dem Zug in sein Internat“, hatte Leonies Mutter schon letztes Jahr versucht, die Sache schönzureden.
Gratuliere, Mama! Es ist ganz toll, wenn man seine Sparsamkeit noch mit Geschichten aus Büchern veredeln kann! Aber bei Harry war es doch ein bisschen anders. Zumindest hatte der ein paar Mitschüler bei sich im Zug sitzen.
Fast alle von Leonies Mitschülerinnen wurden von ihren Eltern gebracht. Der erste und der letzte Schultag im Internat Lindenberg waren die einzigen Tage, an denen es schwer war, an der Burg einen Parkplatz zu finden. „Siehst du“, hätte ihr Vater gesagt, „schon wieder ein Problem weniger!“
Einige Schülerinnen reisten sogar mit Flugzeug und Taxi an. Das waren die, deren Eltern keine Zeit hatten und nicht ganz so sparsam waren wie Leonies, und das waren gar nicht mal so wenige.
Leonie machte das Ganze
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