Landgericht
hatte er unter Kontrolle, die Schultern bebten, die Lider und die Nasenflügel und tief darunter auch die Knie. Später wußte er das nicht mehr oder wollte es vergessen, er wußte auch nicht, wie viel Zeit vergangen war auf dem Besucherstuhl, es war eine hoffnungslos in ein Loch gefallene Zeit, ja, die Kontrolle setzte vollkommen aus. Er erinnerte sich erst wieder, daß das Gesicht des Rechtsanwalts nah an seinem Gesicht war, er spürte den fremden Atem, der nach Tabak roch, sah den Blick, prüfend, sorgenvoll, irritiert, und spürte, daß eine schwere, behaarte Hand auf seiner Schulter lag, ja wirklich. Die Hand war ein Gewicht, eine Autorität. Und dann sah er, ja, er war sich sicher, er sah, daß die Angestellte ihm ein Glas Wasser brachte. Er nippte, nippte, nippte und wußte im ersten Augenblick nicht, wo er wirklich war, wieder in Hamburg in dem Konsulat, das ihm auch Angst gemacht hatte, beim
Registro Nacional
, er war nirgends, und er war außer sich. Er sah die Angestellte an, sah, was er jenseits der Hornbrille erfassen konnte, den bronzefarbenen Teint, Oberarme, die fleischig waren, und eine Bluse mit Puffärmeln. Der Ausschnitt war mit einem Bändchen zusammengerafft, das eine adrette Schleife bildete, so daß er nicht einmal den Busen sah, aber die aufreizende und gleichzeitig überaus sorgfältige Art seiner Verpackung, der Wegschließung für unbefugte Augen. All das sah er, bemerkte es in einer Art von Zeitlupe, ohne daß die Beobachtungen wirklich in ihn sinterten. Geschieht Ihnen das öfter?, fragte der Rechtsanwalt. Und Kornitzer gelang es, sich zu sammeln und
no, no
hervorzustoßen, mit einer solchen Bestimmtheit, die keinen Zweifel an seinem Gemütszustand zuließ. Ich werde über Sie nachdenken, sagte der Rechtsanwalt. Lassen Sie mir Ihre Adresse da. Er sagte es, ohne daß Kornitzer eine Regung in seiner Stimme, in seinem Gesicht deuten konnte (seine Haarpracht spielte jetzt keine Rolle), und diese innere Dunkelheit in der gleißenden Helligkeit des karibischen Tages schmerzte. Kornitzer schrieb wie bei seinem ersten Besuch wieder mit wackliger Handschrift seinen Namen und seine Adresse in Havanna auf, und dann wankte er hinaus, die ausgetretene Marmortreppe hinunter, und die Angestellte nahm ihre Hornbrille ab, betrachtete die Gläser mit einer solchen Intensität, daß Kornitzer wußte: Sie vermied es, ihn anzusehen, den Flüchtling aus Deutschland, das hochgewachsene Häufchen Elend.
Selma berichtete viele Jahre später von einem anderen Nervenzusammenbruch. Ihr Vater sei aus Kuba zunächst nach Berlin gereist. Und als er die Zerstörungen der Stadt gesehen habe, sei er zusammengebrochen und habe in einer Klinik behandelt werden müssen. Aber woher wußte sie das? Nur ihr Vater konnte es ihr gesagt haben. Aber er war doch von Havanna nach Lindau gereist. Hatte er einen Umweg über Berlin gemacht? Das schien nicht glaubwürdig – mit seinem Gepäck und der Anforderung Claires, die ihn am Bodensee erwartete. Oder hatte Selma ihn mißverstanden, ja, mißverstehen wollen, während er vielleicht vom Nervenzusammenbruch bei der Ankunft in Havanna sprach, dachte sie an eine andere Ankunft. Daß die Ankunft in Havanna, weißes Schiff, blauer Himmel, am Ziel der Flucht, ihren Vater durchgerüttelt und entsetzt hatte, daß er am Ende war ganz am Anfang, konnte sie sich nicht vorstellen, und so mußte sie wohl oder übel oder unbewußt den Familienroman umdichten, niemand konnte ihr widersprechen, wollte ihr widersprechen. Und war es nicht auch gleichgültig, wann und wo ihr starker, vernünftiger Vater einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte? Es soll auch nur beiläufig erwähnt werden.
Kornitzer verbrachte eine schlaflose Nacht in der lauten Pension, stand beim ersten Türenknallen am Morgen auf und bog in die Calle San Lázaro, da sah er schon das Meer. Er ging am Turm von San Lázaro vorbei, es drängte ihn, auf der Hafenpromenade spazierenzugehen. Er starrte in die Brandung wie in einen blinden Spiegel. Ich muß mich entschuldigen für den peinlichen Vorfall, sagte er sich. Und lief zurück durch die Altstadt, drückte sich an den Hauswänden entlang, schlüpfte unter die Kolonnaden, wenn er sie fand, um zumindest ein wenig Schatten zu ergattern. Als er die Treppe zu der Kanzlei emporstieg, kam ihm der Rechtsanwalt Santiesteban Cino mit wehenden Rockschößen entgegen. Ich muß ins Gericht, ich habe einen Termin versäumt, kommen Sie mit, wenn Sie wollen. Und dann begaben sich die beiden
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