Landgericht
Männer in einem scharfen Galopp drei, vier Blocks weiter, überquerten eine Avenida, dann noch einmal eine große Kreuzung, prall heiß, tauchten wieder in einen Kolonnadengang, und dann wies der Rechtsanwalt vage mit der Hand in die Ferne. Da: das Gericht. Und als sie eintraten in den vornehmen Bau mit den dorischen Säulen – Kornitzer nun seinem Empfinden nach ein, zwei Schritte hinter seinem neuen Bekannten –, drehte der sich plötzlich nach ihm um und sagte: Alles Unheil kommt daher, daß mein Kalender nicht ordentlich geführt wird. Señora Martínez poliert ihre Fingernägel aufs Schönste, und die Termine schmoren, schmoren. Kornitzer war gar nicht sicher, ob er alles richtig verstanden hatte, er lauschte dem Klang nach, der Wortenergie, der Melodie, und versuchte, Schritt zu halten mit dem Rechtsanwalt, der vorwärtsstürmte und dabei seine Robe, in die er im Gehen, Laufen, geschlüpft war, zurechtnestelte. Und Kornitzer half ihm instinktiv, das Ärmelloch zu erwischen, an dem der Rechtsanwalt mit einem energischen Griff gerade vorbeizielte. Kornitzer verstand nicht viel von dem Verfahren, an dem teilzunehmen er eingeladen war. Ein Schneider war betrogen worden, er hatte einen Ballen Stoff bestellt, geliefert wurde von einem Händler ein minderwertiger Stoff. Der Schneider hatte sich zu zahlen geweigert, er war verklagt worden. Der Rechtsanwalt verteidigte ihn wortreich, und alles endete mit einer Vertagung des Verfahrens. Der Richter zog sich mit seinen Beisitzern für kurze Zeit zurück, dann befand er, die Kammer habe einen Anspruch, den minderwertigen Stoff in Augenschein zu nehmen. Ein Zeitaufschub, eine neue Verhandlung. Ohne den Stoff kein Urteil. Kornitzer kam dies umständlich und ineffektiv vor, aber es war die erste Verhandlung in einem Rechtssystem, von dem er nichts verstand, also schwieg er und verbot sich auch im Stillen ein Urteil.
Wissen Sie was?, fragte der Rechtsanwalt ihn beim Rückweg. Kornitzer ängstigte sich ein bißchen, er würde eine eitle Frage stellen: Wie war ich? Oder: Wie haben Sie mein Plädoyer empfunden? Aber er ließ Kornitzer gar nicht erst zu Wort kommen und sagte: Deutschland, das ist doch ein Land der Präzision. Das mußte Kornitzer einsilbig bestätigen, ohne zu wissen, wohin eine Argumentation führen könnte, die so begann. (Hoffentlich nicht zu den Patenten.) Aber dann schlug ihm der Rechtsanwalt vor, er, der Deutsche, möge doch seine Termine überwachen. Einen Kalender führen, was Señora Martínez wohl für eine überflüssige Angelegenheit hielt. Im Vorzimmer hinge ein Kalender der kubanischen Zuckerrohrwirtschaft mit schönen Bildern, optimistischen Schnittern, Zuckermühlen, romantischen Bildern und Kästchen für jeden Tag. Das heißt, Sie haben keinen Terminkalender?, fragte Kornitzer mitleidig. Wozu?, fragte der Anwalt. Die Termine purzeln täglich, verkleben, verkleistern sich. Der eine Richter ist unpäßlich, möchte aufs Land fahren, ein anderer verheiratet in einem reifen Zustand seine Tochter, der gegnerische Anwalt begreift, daß er auf weitläufige Weise mit meiner Angestellten verwandt ist, und muß sich ein Plädoyer ganz neu erfinden. Und mir kann es ebenso gehen. Man muß handeln, wenn das Handeln geboten ist. An dieser Stelle versuchte der Rechtsanwalt zum ersten Mal den Namen Kornitzer auszusprechen, es war eher wie das polternde Verenden einer kleinen Dampfmaschine, aber Kornitzer dachte wiederum, daß es ein gutes Zeichen sei, wenn er versuchte, sich seinen Namen zumindest einzuprägen, und er schlug keine Korrektur des Lautstandes vor, tz, tz. Das hörte sich vielleicht für einen Kubaner wie der Stammlaut der Malariamücke an, tz, eine Verscheuchungsgeste und gleichzeitig ein Gesumm. Man mußte als jemand, der mit dieser Lautverbindung durchs Leben oder nun durch eine neue Lebenserfahrung ging, sehr, sehr vorsichtig sein. Also sagte er gar nichts, und in dieser Lücke sprach der Anwalt weiter; offenkundig hatte er selbst diese Lücke gar nicht bemerkt. Noch einmal wiederholte er salbungsvoll: Man muß handeln, wenn das Handeln geboten ist. (Oder rekapitulierte Kornitzer diesen Satz, weil er ihn als einen grundsätzlichen verstand?) Als eine Lebensregel hörte sich das sehr vornehm und subjektiv an, aber für den Alltag mit Mandanten war das Prinzip, das der Rechtsanwalt aufs Panier hob, nicht wirklich geeignet. Man mußte handeln, um jeden Preis. (Dabei handelte man vermutlich meistens zu spät.) Oder: Man mußte vermeiden, sich in
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