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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: U Krechel
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Händlern zuzuhören, war eine Tat, aber es war auch die Verhinderung eines Tuns, zum Beispiel des Briefschreibens, noch einmal an die alte heimatliche Adresse in Berlin, gleichgültig, ob und wann der Brief ankam, es war eine Tat und gleichzeitig ein beschämendes Versinken in eine Passivität, die in Berlin im allgemeinen und von Claire im besonderen nicht verstanden werden könnte. Und so trank Kornitzer noch ein Glas Ananassaft, und dann hatte er sich selbst überzeugt, die Hand klebte am Papier, so daß er Claire keinen seriösen, keinen liebevollen, keinen werbenden, keinen Anteil nehmenden Brief schicken konnte, und er war bekümmert darüber, aber es war nicht zu ändern.
    In der ersten Zeit in Havanna fürchtete er, etwas geschähe. Etwas Fürchterliches geschähe. Zwei Polizisten kämen in seine Unterkunft, prüften seine Papiere noch einmal, wieder einmal und bedeuteten ihm, sie seien nicht gültig. Sie müßten ihn in Gewahrsam nehmen. Und wie dieses Gewahrsam aussah, ahnte er. Oder er schreckte auf in der Nacht, glaubte, er hätte Selma weinen gehört, wollte sich wie in der Cicerostraße ins andere Zimmer tasten und nach ihr sehen. Aber es gab kein anderes Zimmer. Dann vermißte er Claire, ihre Vernünftigkeit, ihre Unabdingbarkeit, von der Tüchtigkeit wollte er jetzt nicht reden, und er ging schon frühmorgens, bevor die Hitze losschlug, zum Hauptpostamt und gab ein Telegramm auf.
Komm so bald du kannst Stop Bedingungen einigermaßen Stop In Liebe Richard
. Er strich das Wort Bedingungen wieder aus, setzte dafür Konditionen ein, bei einem lateinischstämmigen Wort gäbe es weniger Übertragungsfehler, meinte er. Und dann zählte er auch an den Fingern ab, er hatte keinen einzigen Buchstaben gespart, das war ziemlich sinnlos, aber doch auch ein Prinzip, das am Rand des Sinnlosen seinen wirklichen Sinn gewann. Ja, er hatte Geld aus England transferiert, es könnte bei sparsamem Wirtschaften, so kalkulierte er, drei Monate reichen. Und dann würde er weitersehen, oder Claire wäre da, die immer gute, unternehmerische Ideen hatte. Mit der Quittung über die Aufgabe des Telegramms wanderte er durch die Hitze in die Pension zurück, und die Quittung knisterte wie ein Versprechen von Glück. Die Deutschen hatten nur die Ausfuhr von zehn Reichsmark erlaubt, die Kubaner wollten Landungsgeld sehen und eine Sicherheit zum Vorweisen. Entweder übertrat man die Ausreise-Bedingung und machte sich straffällig, oder man machte sich bei der Einreise gleich schuldig, fiel in ein Loch und wurde zurückgewiesen, dazwischen gab es nichts. Er war gezwungen, sich mit der Kultur des Gesetzbrechens auseinanderzusetzen, nicht indem er richtete, sondern indem er handelte, beziehungsweise das Handeln unterließ.
    Gleich nach seiner Ankunft hatte er sich, wie es vorgeschrieben war, beim
Registro Nacional de Identificación, Registro de Extranjeros
eintragen lassen. Er erhielt eine für ein Jahr gültige Bescheinigung, die er mit fremden Augen ansah und keineswegs verlieren durfte. Er hatte den Rechtsanwalt aufgesucht,
el abogado
Rodolfo Santiesteban Cino, der vielleicht etwas für ihn tun könnte. Der Rechtsanwalt, der offenbar mit Patenten zu tun hatte. Kornitzer fand die Adresse in Vedado, in einem schachbrettartig angelegten feinen Viertel mit vielen Bäumen und breiten sauberen Straßen, wenn das nicht schon zu viel gesagt war. Sittsame Hunde wurden ausgeführt, und sie bellten nicht, Bäumchen wurden zu akkuraten kleinen Tonnen gestutzt, Rasen wurde gewässert von schwarzen Boys, Vogelkäfige auf einer Veranda wurden gewienert, während die Tiere lautstark gegen die Störung ihres verflatterten Alltagslebens protestierten. Aber es war die Privatadresse, an der er als Bittsteller vollkommen fehl am Platz war, und eine Hausangestellte bedeutete ihm, als er sein Sprüchlein gesagt hatte, wohin er sich, nicht weit vom Kapitol mit seiner Kuppel, die der vom Kapitol in Washington glich, mit seiner Peterskirchenkuppel, wenden solle, nicht weit von den offiziellen Gebäuden, in der Geschäftsgegend. Aber Kornitzer schloß rasch aus dem Fehler: Wenn er eine Privatadresse bekommen hatte in Hamburg, mußte der Kontakt zwischen dem Konsul und dem Rechtsanwalt doch einigermaßen intim sein, freundschaftlich oder gar verwandtschaftlich. Es war ein Instinkt, der Kornitzer dies denken oder besser doch: fühlen ließ. (Daß er Instinkte hatte, wußte er vor seiner Verfolgung noch nicht, insofern war die Verfolgung, auch die Vertreibung ein

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