Landgericht
weitläufiges Lernprogramm, das er niemals freiwillig gewählt hätte. Und dies, obwohl er dem Denken mehr vertraute.)
Kornitzer war nicht ungeschickt und drängte der Hausangestellten eine Karte auf, auf der sowohl seine Berliner Adresse als auch auf der Rückseite handschriftlich die Adresse des Hamburger Konsuls verzeichnet war, der ihn auf die Patente angesprochen hatte. Und er kritzelte seine Adresse in Havanna dazu, die natürlich nicht beeindruckend, aber doch deutlich war. Und natürlich überreichte er die Karte so, daß der Blick der Frau zuerst auf die Hamburger kubanische Adresse fallen mußte, und danach erst auf die des hilfesuchenden Deutschen aus Berlin. Auch das war ein Instinkt. Und auch ein Instinkt war, der Frau einen Geldschein zuzustecken. Daß er das konnte, dankte Kornitzer seiner Mutter, ja, er hätte ihr in der ersten Zeit in Kuba täglich auf Knien danken können, und gleichzeitig sehnte er sich nach Claire und den Kindern.
Es gelang ihm dann am nächsten Tag, das Büro des Rechtsanwalts Rodolfo Santiesteban Cino in der Avenida Agramonte zwischen Capitol und Bahnhof zu finden. Es war in einem Gebäude, das dem ganzen Standard nach nicht dem privaten in der Vorstadt entsprach, Elektroleitungen in einem wilden Gestrüpp im Hof, Regenrinnen, die ins Nirgendwo ragten, die Treppen ausgetreten, mürbe. Im Vorzimmer waren die Stühle hart und die Lehnen sehr schlank und steil aufwärts gerichtet. Er wartete, wartete, und wenn er sich später zu erinnern suchte, welche Menschen mit ihm im Warteraum saßen, wußte er es nicht; so sehr war er auf sich, sein Begehren konzentriert. Wieder richtete er Grüße des Konsuls aus Hamburg aus, wieder einer Frau, ein Flüstern hinter der Tür, ein Räuspern. Und dann stand Kornitzer endlich nach Verbeugungen vor dem Rechtsanwalt Rodolfo Santiesteban Cino. Er war das Ziel, die Sehnsuchtsadresse, seit Kornitzer sein Visum bekommen hatte; Kornitzer hatte sich den komplizierten Namen eingeprägt. Der Rechtsanwalt hatte eine hohe, vornehme Stirn, auf der ein paar Schweißperlen standen, seine Haut war makellos, ruhige Augen, dunkelsamtig wie Oliven. Und am erstaunlichsten war eigentlich sein Haar. Es hatte über der Stirn, an den Schläfen bedauerlicherweise keine Spur hinterlassen, wölbte sich dann aber schwarz, mächtig und lockig von der Mitte des Schädels bis über den Kragen, ringelte sich ein wenig auf dem weißen Kragen. Kornitzer hätte eine solche, beiläufig nach hinten gerutschte Haarfülle vielleicht einem Dirigenten einer Zigeunerkapelle irgendwo in der Welt (aber doch in Europa, so klein war seine Welt!) zugetraut, aber nicht einem Juristen in Mittelamerika, der nun einmal seine einzige Hoffnung war. Sie wechselten ein paar Sätze hin und her aus dem Lehrbuch der Höflichkeit. Der Herr war freundlich, schien nach Kornitzers Ansicht erstaunlich viel Zeit für einen Bittsteller zu haben, Berliner Verhältnisse waren ganz anders gewesen. Und ehe Kornitzer sich’s versah, platzte es aus ihm heraus: das Unglück des Rassismus, das Verjagtwerden aus dem Gericht, die Arbeit in der Lampenfabrik, die Unterbringung der Kinder in England, die Unmöglichkeit, zusammen mit seiner Frau Deutschland zu verlassen. Er wedelte energisch mit seinem Schein, der ihm einen Aufenthalt erlaubte, aber keine Arbeit, es war ein Dammbruch. Kurz gesagt: Er war eine einzige Fleisch gewordene Hilfsbedürftigkeit. Wie sollte es weitergehen, wie, wie? Er sei ja zu jeder Arbeit bereit (das war nicht ganz wahr, die Glühlampenfabrik hatte ihn mürbe gemacht), aber strafbar wolle er sich nicht in dem fremden Land machen, er radebrechte, schwitzte, der Rechtsanwalt half ein wenig mit Nachfragen. Ja, Kornitzer war Richter an einem Zivilgericht gewesen, die Patente, nach denen ihn der Konsul in Hamburg gefragt hatte, erwähnte er nicht. Und auch Santiesteban Cino fragte nicht danach.
Dann geschah Kornitzer etwas, das er nicht fassen konnte. Zuerst glaubte er, der Stuhl schwanke, er sah auch den Rechtsanwalt schwanken in einem milchigen Licht, aber es war kein Erdbeben. Er sah, wie der Rechtsanwalt den Mund öffnete, aber er hörte ihn nicht. Dann legte Kornitzer eine verschwitzte Hand auf die Tischkante, und auch der Tisch wankte nicht. Erst jetzt begriff er, daß das Beben in ihm war, es war nicht nur ein Beben, es war ein Schütteln, Schaudern, Zittern, es konnte auch sein, daß ein wilder Tränenstrom aus ihm hervorbrach, den er nicht zu kontrollieren vermochte, nichts, nichts
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