Landleben
irgendwie nackter, und nicht weni-
ger nackt. Mann und Frau waren politisch verschiedener
Meinung, und sie litten häufig unter einer Diskrepanz von
Vorurteilen, aber eine Übereinstimmung in ihrem Nerven-
system sorgte für Ausgleich. Julia stammte von der Küs-
te Connecticuts und war «privilegiert» aufgewachsen. Sie
fuhr mit einem MG-Cabrio zu einer Privatschule, durch
eine Reihe von grünen Vororten und über eine Reihe von
Eisenbrücken. An ihrer Schule gab es kein Basketball-
Team und kein Football-Team, die Hauptsportarten waren
Tennis, Golf und Reitturniere, einschließlich Polo. Julia tat
so, als könne sie nicht glauben, dass diese Sportarten an der
Highschool von Willow nicht angeboten worden waren und
dass seine Vorstellung von einem glücklichen, erfüllten
Sommer darin bestanden hatte, durch den Garten zu lau-
fen, vorbei an der Weinlaube mit den summenden Japan-
käfer-Fallen, vorbei an dem großväterlichen Hühnerhaus
mit den Asbestschindeln und quer über ein Maisfeld zu ei-
nem Spielplatz, auf einem aufgeschütteten Plateau neben dem Baseball-Feld der Stadt, und sich dort den ganzen Tag
mit einer Horde anderer braunbeiniger Lümmel herum-
zutreiben. Ein Sommercamp lag jenseits der finanziellen
Möglichkeiten der Familie, außerdem war der Gedanke,
dass der zimperliche, furchtsame, wasserscheue Owen zu-
sammen mit anderen Jungen in einer Blockhütte wohnen
und auf einem pechschwarzen eiskalten See Kanu fahren
sollte, ohnehin erschreckend. Die ganze raue, ihre eigene
Härte testende Welt der Reichen, die zum Befehlen und
Herrschen geboren waren, lag glücklicherweise außerhalb
seiner Reichweite.
Er fürchtete sich vor Wasser, vor Höhen, vor Spinnen,
vor Dunkelheit, vorm Ersticken, vor harten Jungen, vor
ekligen Dingen. Bei einem Wanderzirkus war er einmal
von einem überforderten jungen Helfer ziemlich grob auf
ein stinkiges, fleckiges Pony gesetzt worden und hatte sich
viel zu hoch vom Erdboden entfernt gefühlt, schlimmer
noch, als wenn er auf seines Vaters Schultern saß, weil das
Tier unter ihm weniger intelligent und unberechenbarer
erschien – und fast so ängstlich wie Owen selbst. Wenn
Julia sich in ihrem lokalen Golf-, Tennis- und Reitverein
vom Steigbügel auf den Pferderücken schwingt und mit
ihrem roten Rock und der runden schwarzen Kappe zu
einer drei Meter hohen Reiterin wird, empfindet er eine
Ehrfurcht, die aufrichtiger ist als damals, vor sechzig Jah-
ren, wenn er, die Hand auf dem Herzen, zu der Flagge
aufgeblickt hatte, die Miss Mull jeden Morgen hisste. Sie
wurde über die quietschende Rolle durch die Neunuhrson-
ne hochgezogen, und man konnte sie nicht lange ansehen,
weil der Feuerball einen pulsierenden, purpurnen Fleck
auf seiner Netzhaut hinterließ, der ihn, so befürchtete er,
eines Tages erblinden ließ. Auch Computer-Bildschirme hinterlassen oft ein solches pulsierendes Nachbild, aber er
kann immer noch sehen. Mit siebzig kann er noch sehen
und auf den eigenen Beinen gehen und, wenn Julia nicht
aus einem sehr fernen Zimmer nach ihm ruft, ausreichend
hören. Verwegenere Männer seines Alters sind vom Kano-
nenfeuer ertaubt, vom Kontaktsport zu Krüppeln gemacht
worden. Seine ihm angeborene Vorsicht, die sich gegen
seinen Wunsch, Testpilot zu werden, durchsetzte, hat sich
gelohnt.
Angesichts seiner vielen Bedenken und des behüteten
häuslichen Haushalts, den seine vier Wächter unter Mü-
hen um ihn herum aufrechterhielten, ist es ein Wunder,
dass er im Leben überhaupt so gut zurechtgekommen ist.
Seine Fähigkeit als Einzelkind, sich selbst zu beschäfti-
gen, seine Geduld beim Lösen von Problemen, die er sich
selbst stellte oder die er und Buddy Rourke sich zusam-
men ausdachten, haben ihm in der aufblühenden Com-
puterindustrie gute Dienste erwiesen; doch auch auf ge-
sellschaftlicher Ebene ist er nicht ganz ungeschickt. Im
Auftreten ist er scheu, aber verführerisch. Die Kleinstädte,
in denen er gelebt hat, sind Stätten der Unterweisung ge-
wesen.
In Willow entfloh er, dank der unbestreitbaren Vorsor-
ge des Staates, täglich seinem Elternhaus, um die Schu-
le zu besuchen, in deren Klassen er bis zum Abgang fast
ausschließlich von mütterlichen, nur freundlich fordern-
den Frauen unterrichtet wurde, und danach mit der Horde
kichernder, albernder Mädchen nach Hause zu gehen, die
spürten (nicht nur Ginger Bitting, sondern auch Barba-
ra Emerich mit ihren weizenblonden Zöpfen und einem
grauen Schneidezahn, der zu sehen war, wenn sie
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