Landleben
dem in unseren
Adern und Spalten süße Substanz gegeben wird. Die Teile
von uns, die nach konventioneller Moral als genierlich gel-
ten, werden erhoben und gepriesen. Uns wird gesagt, dass
wir leuchten, dass wir herrlich sind, und der nackte Körper,
den wir im blutigen Augenblick der Geburt bekommen ha-
ben, birgt alle Antworten, die ein anderer, eine andere, die andere ersehnt, jetzt und immerdar.
Um drei Uhr morgens, wenn Owen sich auf den zer-
wühlten Laken wälzt und die Pforte zu heilendem Verges-
sen nicht finden kann, seinem Tod so nahe wie Grampy
damals in der Mifflin Avenue, nur skeptischer und kein so
emsiger Bibelleser, dann erkennt er, als blickte er in die
Tiefe eines plötzlich erleuchteten Brunnens, dass sein un-
ter einem glücklichen Stern stehendes Leben eine einzige
Quälerei aus Angst, Begehren, Ehrgeiz und Schuld gewe-
sen ist. Wenn er sich jetzt wieder in Middle Falls sieht, kann er sich nicht vorstellen, was ihn in so viele riskante
Situationen und aberwitzige Positionen getrieben hat: Er
war eine Marionette – das Alter hat die Fäden durchschnit-
ten. Sogar seine Versuche zu masturbieren versickern; vor
seinem inneren Auge lässt er die Bilder des feuchten,
wissenden Versinkens, die grotesken Stellungen der Un-
terwerfung ablaufen, aber wenn er fast da ist, es beinahe
in der Hand hat, entgleitet ihm plötzlich die Hitze oder
die Erregung oder was immer es ist. Die auslösende Mix-
tur aus primitiver Mechanik und gefühlsmäßiger Illusion
löst sich auf. Das Geheimnis flieht. Das System stürzt ab.
Die Rahmenbedingungen für das Funktionieren, einst so
breit angelegt, dass sie reichlich Raum für Ermüdung und
Ambivalenz ließen, werden enger. Am fernen Ende seiner
Pilgerfahrt entschwinden die selbst erzeugten Orgasmen
der jungen Jahre. Kein einziger ist seither so intensiv ge-
wesen, ein so absolutes Entschweben. Auf ähnliche Weise
betrachtet er den Inhalt – die solide gearbeiteten Möbel,
das schimmernde Porzellan – seines gegenwärtigen vor-
züglichen weißen Hauses am Meer und vermag doch nicht
den We ihn ach ts glänz, die erregte metaphysische Dring-
lichkeit heraufzubeschwören, die den schäbigen, einfa-
chen Dingen im Haus seines Großvaters – den bronze-
nen Kerzenhaltern und den bestickten Tischläufern, den
armseligen paar Büchern und Spielsachen und Vasen – im
blassen, durchs Fenster hereinscheinenden Dezemberlicht
innewohnten.
Was ihm bleibt, sind Momente der zärtlichen Achtung,
in der Nacktheit oder auf dem Wege dahin. Vanessa war
immer zum Orgasmus gekommen, doch da war etwas Brüs-
kes, sogar Abweisendes in der Art, wie sie ihn sich geholt
hatte, ganz anders als Alissas wimmerndes, fingerlutschen- des Zergehen in rollenden Wellen von Empfindungen, die
sie schließlich dem auslieferten, was jedes Mal wie eine fri-
sche Überraschung war. Faye, die liebe, ging beim Flirten
bis zum Äußersten, aber mit einer ansteckenden, unschul-
digen Fröhlichkeit, die es leicht machte, sie zu lieben. Mit
Karen war es am wenigsten schwierig gewesen; für sie als
Kind ihrer Generation war es keine große Sache, eher wie
eine Kaffeepause oder eine gymnastische Übung, wenn
man zu lange im Flugzeug gesessen hat. Nein, das ist nicht
fair. Auch sie, und Jacqueline und Antoinette und Mirabel-
la, besonders Mirabella mit ihrem Haar wie gesponnener
Zucker – sie alle verliehen dem Akt, der äußersten Inter-
aktion, einen transzendenten Wert. Die Menschen müssen
romantisch verliebt sein, sonst gelingt es ihnen nicht, sich
über das unbewegte Kopulieren von Schafen und Eich-
hörnchen zu erheben. Phyllis’ ungeduldige Erlaubnis, in
dem Holzhaus auf Cape Cod, wo es nach salziger Luft und
harziger Kiefer roch, ihr Lass es uns einfach machen stimmte
vielleicht einen unglücklich schroffen Ton an, aber sie ge-
währte ihm Eintritt in ein Reich, wo seine eigene myste-
riöse Existenz keiner Erklärung bedurfte. Manche Dinge
werden – einen Moment lang – klar. Owens Vergangenheit
ist wie ein hoch ins Licht gehaltenes Blatt tintenblau-
en Seidenpapiers, sodass die hineingestochenen Löcher
leuchten: Diese Sterne sind die Frauen, die sich von ihm
ficken ließen.
Ein zölibatärer Kleinstädter schrieb einst: «Wir wissen
nicht, wo wir sind. Zudem verbringen wir beinahe die
Hälfte unserer Zeit in tiefem Schlaf. Und doch dünken
wir uns weise und haben eine fest gefügte Ordnung an
der Oberfläche.» Eine solche Oberflächenordnung
Weitere Kostenlose Bücher