Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Einige Tage vor ihrer Hinrichtung wurde ihnen befohlen, Postkarten ins Ghetto Theresienstadt und an Bekannte in Deutschland, in den besetzten Gebieten und in neutralen Ländern zu schreiben. Diese Postkarten mussten auf den 25. März vordatiert werden, also auf ein Datum, das mehr als zwei Wochen nach ihrer Ermordung lag. Die Deportierten des zweiten Transports behielten unterdessen weiterhin ihren Sonderstatus, und im Mai trafen zwei weitere Transporte mit je 5000 Juden aus Theresienstadt ein. Seit März war jedoch allen Beteiligten klar, dass die Überlebensdauer der in das Familienlager Deportierten genau sechs Monate betrug. Tatsächlich wurde Anfang Juli 1944, sechs Monate nach Ankunft des zweiten Transports, eine weitere Tötungsaktion durchgeführt. Sie verlief jedoch auf andere Weise als die vorangegangene: Es fand eine Selektion statt, und diejenigen, die als »arbeitsfähig« eingestuft wurden, schickte man in Arbeitslager nach Deutschland; der gesamte Rest des Lagers wurde innerhalb einer Nacht in den Gaskammern vernichtet.
Es wurden verschiedene Theorien aufgestellt, um das Phänomen dieses Sonderlagers zu erklären, aber bis vor kurzem war es nicht möglich, sie auf der Grundlage offizieller Dokumente zu erhärten. Nach der Entdeckung einer Reihe von Dokumenten des Reichssicherheitshauptamtes ( RSHA ), die sich mit diesem Thema befassen, können wir heute jedoch die Gründe für die Errichtung des Lagers und die Umstände, die zu seiner Liquidierung führten, bestimmen.
Unter den relevanten Dokumenten befinden sich der Briefwechsel zwischen dem Berliner Büro des Deutschen Roten Kreuzes und Adolf Eichmanns Büro im RSHA sowie die Korrespondenz zwischen dem Deutschen Roten Kreuz und dem Hauptquartier des Internationalen Roten Kreuzes in Genf. Eine Durchsicht dieser Korrespondenz führt zu der nahezu sicheren Erkenntnis, dass das Familienlager in Auschwitz ähnlich wie das Ghetto Theresienstadt und zusätzlich zu diesem als vorgeblich lebender Beweis dafür dienen sollte, dass die Berichte über die Vernichtung der nach Osten deportierten Juden falsch waren. Um die Berichte zu widerlegen, wurden als Beweismittel Postkarten aus Auschwitz angeführt, die bestätigen sollten, dass die Deportierten und ihre Familien am Leben waren; weitere Beweise waren die Empfangsbelege für Pakete, die unter der Aufsicht des Internationalen Roten Kreuzes verschickt worden waren, sowie der in Aussicht gestellte Besuch einer Delegation des Roten Kreuzes im Lager, der dem Besuch im Ghetto Theresienstadt folgen sollte. Es scheint, dass der höchst positive Bericht über den Besuch der Kommission des Internationalen Roten Kreuzes im Ghetto Theresienstadt (der den Worten eines Berichterstatters in den RSHA -Briefen zufolge »alle ihre Erwartungen zufriedenstellte«) den zweiten Teil des anvisierten Besuchs, die Besichtigung eines »jüdischen Arbeitslagers in Birkenau«, überflüssig machte. Daher wurde die endgültige Liquidierung des Sonderlagers, das damit ebenfalls überflüssig geworden war, kurz nach dem Besuch der Delegation des Roten Kreuzes in Theresienstadt durchgeführt.
II
Wie bereits eingangs erwähnt, gibt uns der Fall des Familienlagers von Auschwitz-Birkenau die Möglichkeit, eine Reihe von grundsätzlichen Fragen der jüdischen Geschichte zur Zeit des Holocaust genauer in Augenschein zu nehmen. Ich meine damit in erster Linie die Aufrechterhaltung der jüdischen Gemeinschaft als sozialer Organismus unter den vom totalitären Regime des »Dritten Reiches« auferlegten Bedingungen. Oder präziser gesagt, die Frage nach der Kontinuität und den Grenzen jüdischen Gemeinschaftslebens von 1933 bis in die Phase der Massendeportationen und der Massenmorde.
Die Ergebnisse der jüngsten Forschung zur jüdischen Geschichte während des »Dritten Reiches« zeigen, dass es neben partiellen internen Zerfallserscheinungen und einer partiellen Erstarrung des jüdischen Gemeinschaftslebens seit 1933 als dominierende Entwicklung eine erstaunliche Intensivierung unterschiedlicher interner Aktivitäten gab und dass unterschiedliche soziale Gruppierungen und religiöse Strömungen weiterexistierten. Besonders auffällig sind die wachsende Bedeutung der innerhalb der Gemeinschaft bereits bestehenden Organisationen sowie die Schaffung neuer Strukturen, die der Erziehung, Kultur, Arbeitsvermittlung, Wohlfahrt und dergleichen dienten. Diese Entwicklung lässt sich in Deutschland bis zum Zeitpunkt der Massendeportationen in den
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