Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
abzulehnen.
Es scheint, dass dieses Sonderlager in Auschwitz-Birkenau im Verlauf seiner gesamten Geschichte durch die Kontinuität gemeinschaftlicher Werte gekennzeichnet ist, die uns aus früheren Stadien der jüdischen Erfahrung unter dem NS -Regime durchaus bekannt ist. Gemeint ist die Tendenz, den Zerfall der jüdischen Gesellschaft zu verhindern, sich aber gleichzeitig den neuen Lebensbedingungen anzupassen und einen Umgang mit ihnen zu finden, so schwer sie auch gewesen sein mögen. Der radikale Unterschied liegt darin, dass in jeder anderen Lage – und das schließt die Ghettos während der Zeit der Massendeportationen ein – die Aussicht auf ein zukünftiges Leben bestehen blieb, während im Falle des »Familienlagers« die Gemeinschaft und ihre Strukturen wie auch das Erziehungsprogramm – das per definitionem als Wertevermittlung und als Vorbereitung auf die Zukunft entworfen war – weiterfunktionierten in einer Situation, in der es nur eine unausweichliche Gewissheit gab: die des sicheren Todes. Diese Gewissheit galt nicht nur im individuellen Sinn, in weit größerem Maß galt sie im Sinn eines Todesurteils, das über die gesamte Gemeinschaft des Familienlagers verhängt worden war, damit Teil war des allen gemeinsamen Schicksals des Völkermords an den Juden, dessen Zeugen sie selbst waren.
Die außergewöhnliche Tatsache, dass die Strukturen, Aktivitäten und Werte des jüdischen Gemeinschaftslebens in einer Lage aufrechterhalten wurden, die jegliche Aussicht auf eine mögliche Weiterexistenz kategorisch verneinte, lässt sich unterschiedlich verstehen. Eine Interpretation, die besondere Aufmerksamkeit verdient, ist, dass hier historisch bedingte, funktionale und normative Werte und Verhaltensmuster in so etwas wie absolute Werte verwandelt wurden.
IV
Ich möchte mich nun kurz der, wie man es nennen könnte, »politischen Geschichte« des Lagers und den offiziellen Dokumente zuwenden, die über den grausamen, kaltblütigen und zynischen Versuch der Nazis Aufschluss geben, die Weltöffentlichkeit hinsichtlich der Massenvernichtung der Juden in die Irre zu führen, indem sie sich einer internationalen Hilfsorganisationen als Alibi bedienten. Der Architekt und Chefkoordinator dieses Plans war aller Wahrscheinlichkeit nach Adolf Eichmann. Die von mir gesichteten Dokumente stammen aus Eichmanns Abteilung im RSHA , vom Deutschen Roten Kreuz und dem Internationalen Roten Kreuz in Genf. Sie wurden in zwei nicht näher bezeichneten Aktenbündeln im amerikanischen »Berlin Document Center« in Westberlin gefunden.
Das erste Beweisstück, datiert am 4. März 1943, etwa ein halbes Jahr vor der Einrichtung des Familienlagers, ist ein Brief des Vertreters des Deutschen Roten Kreuzes in Berlin an das Internationale Rote Kreuz in Genf und bezieht sich auf den Versand von Lebensmitteln und Medikamenten in das Ghetto Theresienstadt. In dem für unsere Untersuchung relevanten Abschnitt heißt es:
Weiterhin fragten Sie auch nach der Möglichkeit von Sendungen an jüdische Empfänger in Lagern im Osten. Dazu muss ich Ihnen mitteilen, dass solche Sendungen z. Zt. aus praktischen Gründen nicht durchführbar sind. Falls sich später die Möglichkeit ergibt, wird das Deutsche Rote Kreuz darauf zurückkommen.
Das folgende Zitat stammt aus einem Brief, den derselbe Repräsentant des Deutschen Roten Kreuzes ungefähr ein Jahr später, am 14. März 1944, abschickte, etwa ein halbes Jahr nach der Errichtung des »Familienlagers« in Birkenau. Der Brief ist adressiert an das RSHA und bezieht sich auf ein vorangegangenes Gespräch zwischen jenem Repräsentanten und Eichmann. Hier geht es nicht mehr nur um Pakete, die aus der Schweiz nach Theresienstadt und ins jüdische Lager nach Birkenau geschickt werden sollten, sondern auch um die Möglichkeit, beide Orte zu besuchen:
Unter Bezugnahme auf die Besprechung des Unterzeichneten mit Sturmbannführer Günther am 6. d. M. [März 1944] und die früher mit Obersturmbannführer Eichmann besprochene Inaussichtnahme des Besuches eines der in Deutschland zugelassenen Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (Delegation in Berlin Wannsee) im Altersghetto Theresienstadt, wird nunmehr um die Anberaumung eines Termines für diesen Besuch gebeten. Wie schon erwogen, dürfte ein solcher nach Eintritt der günstigen Jahreszeit etwa in der zweiten Maihälfte angebracht sein.
Gleichzeitig wird erinnert an den besprochenen Besuch in einem der jüdischen Arbeits- oder
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