Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
Gesichtszüge entglitten und sich eine Fratze in mein Antlitz grub, das unfähig war, noch länger seine Muskulatur zu beherrschen. Die Furchen in den Gesichtern der übrigen Opfer wurden unter glühenden Schmerzen Teil meiner selbst. Vielleicht gab es ja wirklich einen Gott, und er zürnte mir. Denn solche Schmerzen waren übermenschlich.
Kurz vor dem Ende entglitt mir auch der letzte Tropfen des kontrollierbaren Verstandes völlig.
Dann war es vorbei.
Ich war sicher, dass ich nun starb, dass dies der Augenblick des Hinübergleitens war. Dorthin, wo das Dunkel regierte.
Lang, lang lebe die Nacht!
5.
Haben Sie schon einmal die Augen aufgeschlagen, wenn Sie sich sicher waren, Sie seien tot? Haben Sie nicht? Nun, dann lassen Sie sich erzählen, wie es sich anfühlte ...
Denn einmal mehr wachte ich in jenem federweichen Bett im Landsitz des Grafen auf, das mich schon nach der unheimlichen Begegnung mit der Violinensaite so vortrefflich beherbergt hatte und ein paar Lebensgeister zurück in meinen müden Körper sandte.
Doch statt in Marias wunderschönes Gesicht blickte ich in eines, das mir um einiges vertrauter schien als das der Jägerin, die ich erst seit einigen Wochen kannte. Es war rund und mit ernsten Falten um die Augen versehen, die so fröhlich sein konnten, wenn sie wollten. Ein Henriquatre zierte Oberlippe und Kinn, hatte aber einigen Pflegebedarf, denn im Gegensatz zu unserem sonstigen Beisammensein wirkte das Mondgesicht ermüdet. Ringe zogen sich unter den sonst stets zu einem Zwinkern aufgelegten Augen, und auf den Wangen sprossen unrasierte Stoppeln. Untypisch, wenn vielleicht auch bezeichnend für unsere Situation.
„Salandar“, sagte ich leiser als geplant.
Mein Gegenüber lächelte mit einer Mischung aus Scheu und Bitternis, die ihm wohl eigen war.
„Lucien. Schön, dass du wach bist.“
Mein Gesicht fühlte sich an, als sei ich Hauptakteur in einer zügellosen Kneipenschlägerei gewesen. Ich betastete es, doch fühlte keine Schwellung. Das Pochen in meinen Wangen und an meinem Hals verblasste nicht, doch es schien mit dem vielen Schorf in Verbindung zu stehen, den ich ertastete.
„Bring mir einen Spiegel.“
Doch mein beleibter Freund verzog das Gesicht.
„Ich war zu spät“, gestand er. „Aber deshalb hole ich dir noch lange keinen Spiegel. Dein Gesicht wird schon wieder. Ich denke, die Narben werden eher hauchzart werden. Du hast eine Menge Glück gehabt.“
Ich brauchte nicht aufzubegehren. Wenn Salandar mir keinen Spiegel geben wollte, hatte es keinen Sinn, ihn darum zu bitten.
„Was ist mit Maria?“, fragte ich.
„Herr Bloch, der örtliche Arzt, und ich haben uns ihrer angenommen. Sie liegt in ihrer Behausung am Waldrand und wird schon wieder. Die junge Frau ist kräftig. Aber ...“
„Ja?“
„Na ja ... sie wird eventuell ein ziemlich hässliche Narbe an der Schulter davontragen.“
„Das macht nichts“, erwiderte ich rasch und etwas zu erleichtert, um nicht ein wohlwollendes Grinsen auf Salandars Antlitz zu zaubern.
„Die Geisterjagd ist für dich damit beendet“, stellte er fest.
„Warum?“
„Lucien, ich bitte dich! Wir wussten doch alle, dass dieses Leben kein Dauerzustand ist. Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist, heißt es nicht so?“
„So?“
„Jeder von uns hat mehr Geld, als er tragen kann. Sich damit eine schöne Existenz aufzubauen ... was spricht dagegen mit fünfunddreißig? Im Gegenteil, vielleicht sollten wir alle dankbar sein für das, was sich ergibt.“
„Das heißt, du wirst auch nicht weitermachen?“, hakte ich vorsichtig nach.
Salandar schüttelte den Kopf.
„Nein“, entgegnete er. „Ich weiß noch nicht, was ich tue, aber etwas anderes. Dir in die Schlacht zu folgen war immer ein erhebendes Gefühl, aber in Zukunft würde ich auf diese Weise nur noch einem Mann folgen, der seine Chancen nicht ergriffen hat, als er sie hatte.“
Es herrschte eine Weile Stille zwischen uns. Am Himmel vor dem Fenster hatte sich wieder eine leichte Bewölkung zusammengezogen. Graue Schäfchenwolken, sehr ungewöhnlich. Wenn sie sich zu einer Wolkendecke vereinigen würden, würde es vielleicht Schnee geben.
Schnee.
Bald war Weihnachten, fiel mir ein. In wenigen Wochen.
Wäre es nicht schön, Weihnachten mit jemandem zu verbringen, den man liebte? Eventuell ein Leben lang?
Schließlich trafen sich Salandars und meine Blicke.
„Danke“, flüsterte ich.
„Aber?“, hörte Salandar meinen Unterton heraus.
„Aber zuerst
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