Langenscheidt Arzt-Deutsch/Deutsch-Arzt
Taschen vollgepackt mit Nachschlagewerken. Faustregel: Je schwerer der Kittel bepackt ist, desto niedriger ist der Ausbildungsstand.
VORSICHT Es gibt zwei Gruppen, die haben nichts in den Kitteltaschen: Zivildienstleistende und Chefs. Mit etwas Übung kann man sie aber unterscheiden. Der eine hat ein Bett vor sich, der andere einen ganzen Tross hinter sich.
Die Brusttasche
Kugelschreiber in verschiedenen Farben von verschiedenen Pharmafirmen: Anfänger. Der Chef trägt mit einem einzigen goldenen Füller die ganze Verantwortung.
Piepser: Gut, aber nicht sehr gut. Wer richtig wichtig ist, ist auch nicht zu erreichen. Der Chef hat keinen Piepser mehr, er meldet sich, wenn ihm danach ist.
VORSICHT Stauschlauch im Kittel ist ein ganz schlechtes Zeichen. Blutabnehmen müssen nur niedere Chargen. Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz: Blutabnehmen muss man nur solange, bis man es kann.
Noch ein typisches Zeichen, woran Sie einen Anfänger erkennen: Er trägt den Mundschutz beim Blutabnehmen über den Augen.
Die Chefarztvisite
Die feinste Differenzierung der Macht enthüllt das Ritual der Visite. Der tiefere Sinn ist religiös; die Visite ist die Nachahmung der katholischen Prozession. Es soll dabei für alle, die diesem Brauch beiwohnen, eine heilende Wirkung ausgehen. Genaueres weiß man nicht.
Die Monstranz der Visite ist der Kurvenwagen, der vorneweg geschoben wird. Dahinter folgen streng nach Wichtigkeit sortiert die verschiedenen Ebenen in Pyramidenform. Spannend wird es insbesondere, wenn sich die Pyramide ins Zimmer quetscht. Da kommen 30 Leute für 20 Sekunden auf 10 Quadratmetern an Ihrem Bett zusammen. Der Chef als erster. Und zack gibt es ein Problem. Denn in den verbleibenden 19 Sekunden müssen 29 Leute die Plätze tauschen, damit die Pyramide auch beim Verlassen des Zimmers richtig aufgestellt ist. Was sich dort möglichst unauffällig vor der Wand abspielt, ist modernes Tanztheater! Das wurde von Pina Bausch an Komplexität nie erreicht. Und wie viele erwachsene Menschen gemeinsam eine Tür aufhalten, die die ganze Zeit offen steht! Das muss man erlebt haben, um es zu glauben!
Die Dialoge bei der Visite sind ebenfalls streng reglementiert. Zuerst begrüßt der Chef den Patienten und gibt ihm die Hand. Damit überträgt er zwar Bakterien – aber nicht irgendwelche! Wenn schon Krankenhausinfektion, dann doch bitte eine gewichtige!
Nach dem Händeschütteln diskutieren Chef, Oberarzt, Stationsarzt und Student, warum wer etwas nicht untersucht und bedacht hat, welches englische Fachblatt jüngst dazu einen wichtigen Artikel veröffentlicht hat, und wer jetzt der Idiot ist, der das raussuchen und kopieren muss (Antwort: der Student). Nach langer und fruchtloser Diskussion gibt es vom Chef noch ein aufmunterndes »Das wird schon!«, und die Karawane zieht weiter ins nächste Zimmer.
Was von der Visite unterm Strich übrig bleibt, entscheidet die Oberschwester. Sie kennt den Chef und die Patienten am besten, und jeder Doktor, der halbwegs bei Verstand ist, hält sich an ihren Beschluss.
ÜBUNG
Kaufen Sie sich einen Arztkittel. Das geht auch ohne Berufsnachweis. Laufen Sie damit zuerst nur in der Wohnung herum. Automatisch verändert sich zunächst Ihr Gang, dann Ihr Verhalten und das Ihrer Umgebung. Sie werden sich nicht mehr an den Frühstückstisch setzen, sondern sich hinter den Familienangehörigen aufbauen und ungebetene Kommentare absondern wie: »Na, was essen wir denn da? Hatte ich das wirklich schon wieder erlaubt?«
Und Sie werden erstaunt sein, wie Menschen, die schon lange nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben, beim Anblick eines Kittels den ehrfürchtigen Blick eines Vierjährigen am Heiligen Abend annehmen.
Fortgeschrittene üben im Kittel in der Öffentlichkeit. Ich zum Beispiel ziehe den Kittel gerne an, wenn ich auf die Post muss. Da gibt es jetzt ja immer diese eine, ewig lange Schlange. Und für diesen Satz hab ich neun Jahre geackert: »Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt.«
Funktioniert!
Halbengel – Schwestern und Pfleger
Die eigentliche Macht auf Station gehört den Krankenschwestern. Sie erfassen nicht nur ständig Ihre Vitalfunktionen wie Puls und Stuhlgang, sondern haben auch den größten Einfluss auf Ihre Lebensumstände: welches Zimmer und welches Essen Sie bekommen, wann Sie geweckt werden und wer Ihnen den Einlauf verpasst.
Krankenschwestern können für Patienten den Aufenthalt auf Station sehr angenehm machen – oder auch zur Hölle. Für die Ärzte übrigens
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