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Lass sie bluten

Lass sie bluten

Titel: Lass sie bluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Lapidus
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Haupteingang zu, während er seine Zugangskarte durch das Lesegerät zog und durch die automatische Drehtür nach innen geschleust wurde. Sein Zimmer lag im vierten Stock.
    Es war acht Uhr. Im Lift nach oben betrachtete er sich selbst im Spiegel. Sein seitlich gescheiteltes Haar war etwas wirr, und er sah blass aus. Es kam ihm vor, als wären die Falten auf seinen Wangen seit gestern noch tiefer geworden.
    Zimmer 447: seine Welt. Unordentlich wie immer, doch für Hägerström herrschte eine interne Ordnung, die für andere unsichtbar war. Sein ehemaliger Kollege Thomas Andrén pflegte zu sagen, dass man darin ein Motorrad verstecken könne, das selbst die Techniker des Staatlichen Kriminaltechnischen Labors SKL nicht finden würden. Möglicherweise war da etwas dran. Nicht gerade ein Motorrad, aber vielleicht ein Mountainbike. Hägerström musste innerlich grinsen – das Merkwürdige war nämlich, dass bei ihm zu Hause eine nahezu preußische Ordnung herrschte.
    Hier stand an der einen Wand ein Regal mit Büchern, Zeitungen und vor allem Aktenordnern. Neben dem Regal lagen mehrere Stapel mit übervollen Aktenmappen. Die restliche Fläche des Fußbodens war mit Voruntersuchungsbögen, Fallstudien, Beschlagnahmeprotokollen, Informationsmaterial, Ermittlungsberichten, sowohl mit als auch ohne Plastikhüllen, bedeckt. Der Schreibtisch war mit ähnlichen Unterlagen übersät. Außerdem stand er voll mit Kaffeebechern, halb ausgetrunkenen Mineralwasserflaschen und stapelweise Post-it-Zetteln. Direkt vor dem Bildschirm lag ein Haufen von etwa dreißig Stiften. Mitten im Chaos stand ein gerahmtes Foto von Pravat, und daneben hatte Hägerström kürzlich ein anderes Foto platziert. Es stellte seinen Vater in Sommerhemd, Leinenhosen und Loafers ohne Strümpfe dar, aufgenommen vor zehn Jahren draußen auf Avesjö.
    Die Stifte und die Bilder bildeten die Säulen, auf denen seine Arbeit ruhte. Er brauchte seine Stifte – seine Methode bestand darin, die Papiere ein ums andere Mal durchzugehen. Er machte sich Anmerkungen im Material, unterstrich etwas, zog Pfeile und schrieb Bemerkungen an den Rand. Auf diese Weise fügte er ein Puzzleteil nach dem anderen zusammen.
    Und die Fotos: An Pravat dachte er fortwährend. Das Foto vermittelte ihm Kraft. An seinen Vater dachte er erschreckend selten. Das Foto verhalf ihm möglicherweise dazu, es öfter zu tun.
     
    Draußen im Pausenraum tranken sie Kaffee. Hägerström hörte die Stimmen seiner Kollegen im Hintergrund. Micke riss wie immer Schwulenwitze. Isak lachte wie immer zu laut. Er musste daran denken, was sein Vater über die Pausen zu sagen pflegte: »Kaffeepause im Staatssektor? Ihr trinkt wohl mehr Kaffee, als ihr arbeitet, oder?«
    Sein Vater war ein eingefleischter Gegner des »überdimensionalen Sektors« gewesen, wie er ihn nannte. Aber nicht einmal sein Vater war der Ansicht gewesen, dass man die Polizei hätte privatisieren sollen. Und außerdem war Hägerström davon überzeugt, dass die Leute genauso viel Kaffee trinken würden, wenn ein Risikokapitalist den ganzen Scheiß aufkaufte. Das Kaffeetrinken saß schlicht und einfach in den Genen der Bullen.
    Aber wahrscheinlich war er stärker von der Auffassung seines Vaters beeinflusst, als er wollte, denn er ließ die Kaffeepausen regelmäßig ausfallen. Die Zeit reichte so schon kaum aus.
    Es klopfte an seiner Tür.
    Cecilia Lennartsdotter schaute herein.
    »Martin, willst du nicht kommen und einen Kaffee mit uns trinken?«
    Hägerström blickte auf und sah sie an. Sie trug das Halfter und auch ihre Dienstwaffe, obwohl sie sich im Büro befand. Sie hatte sogar ein zusätzliches Magazin am Gürtel befestigt. Er fragte sich zum hundertsten Mal, ob Cecilia ernsthaft befürchtete, dass hier oben im vierten Stock eine Krisensituation entstehen könnte – vielleicht würde ja eine der Polizeisekretärinnen auf die Idee kommen, den Kühlschrank auszurauben?
    Es gab immer Kollegen, die es übertrieben. Allerdings: Vielleicht übertrieben es letztlich alle hier. Er hatte nichts gegen Lennartsdotter. Im Gegenteil, er mochte sie.
    Er antwortete: »Nein, tut mir leid, ich schaff es heut nicht.«
    »So wie immer? Während wir anderen Spaß haben, schiebst du Langeweile.«
    »Ja, wie immer.«
    Sie zwinkerte ihm mit einem Auge zu.
    Hägerström wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu. Tat so, als merkte er nicht, dass sie ihn veräppelte.
     
    Die Stunden vergingen. Hägerström saß an der Voruntersuchung eines schweren

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