Verfuehrung unterm Silbermond
1. KAPITEL
Natasha brauchte ihn nicht zu sehen, um zu wissen, dass etwas nicht stimmte.
Sie hörte es an dem lauten Türschlagen und an den energischen Schritten. Auch das kurze untypische Zögern und der unterdrückte italienische Fluch verrieten Raffaele. Er hängte sein Jackett in der Halle an die Garderobe und ging zu seinem Arbeitszimmer. Dann wurde es still, und eine seltsam ungute Ahnung erfüllte sie.
Raffaele war in den Vereinigten Staaten gewesen, wo er mehrere Immobilien besaß. Normalerweise suchte er Natasha bei der Rückkehr seiner Reisen immer sofort auf, fragte sie, wie es ihr ging und was Sam machte. Und manchmal dachte er sogar daran, dem Jungen eine Kleinigkeit vom Flughafen mitzubringen. Einmal hatte Natasha gesehen, wie er einen edel verpackten Parfumflakon aus seinem Aktenkoffer nahm, und ihr Herz hatte erwartungsvoll zu klopfen begonnen.
Doch der Duft war kein Geschenk für sie gewesen. Das Parfum war wahrscheinlich für das langbeinige Modell, mit dem Raffaele zu jener Zeit ausging.
Aus dem Arbeitszimmer drang kein Laut, und Natasha setzte vorsorglich eine Kanne Kaffee auf. Stark und schwarz, so wie Raffaele es ihr beigebracht hatte, damals, als sie anfing, für ihn zu arbeiten. Es war seltsam, welche Erinnerungen einem im Kopf haften blieben, selbst wenn sie völlig bedeutungslos waren. Natasha spürte noch immer den prickelnden Schauer über ihren Rücken fließen, als Raffaele so nah hinter ihr gestanden hatte. Viel zu nah für ihren Seelenfrieden, doch in ihm hatte diese Nähe offenbar nichts ausgelöst. Er war damit beschäftigt gewesen, der unscheinbaren Frau zu erklären, wie er seinen Kaffee bevorzugte.
„In Italien sagt man, der Kaffee muss aussehen wie Tinte und schmecken wie das Paradies. Sehr stark und sehr dunkel – wie ein richtiger Mann eben. Capisci ?“ Seine Stimme hatte samtig und stählern zugleich geklungen, und seine schwarzen Augen hatten gefunkelt, als amüsiere es ihn, dass er einer Frau zeigen musste, wie man Kaffee zubereitete.
Doch damals hatte man ihr nahezu alles beibringen müssen, was für jemanden wie Raffaele offensichtlich selbstverständlich war. Er war nur an das Beste gewöhnt, und ihr fehlte sogar das Geld für das Notwendige. Wenn sie jetzt an die Schwierigkeiten dachte, in denen sie damals gesteckt hatte, erschauerte sie. Nie wieder wollte sie so etwas durchmachen müssen – den Hunger, die Unsicherheit, die Angst. Doch dann war Raffaele gekommen und hatte sie gerettet.
War das der Grund, weshalb sie ihn derart uneingeschränkt bewunderte?
Natasha stellte den Kaffee zusammen mit einer Schale Mandelkeksen auf ein Tablett. Bevor sie es aufnahm, überprüfte sie ihr Gesicht noch einmal in dem Spiegel, der in der Küche hing.
Was sie sah, war akzeptabel. Das hellbraune Haar saß ordentlich, das Gesicht war ungeschminkt, und das schlichte Kleid zeigte keine Falten. Sie sah kompetent und unaufdringlich aus. Genau so, wie sie es bevorzugte.
Nach Sams Geburt hatte Natasha sich abgewöhnt, Make-up zu benutzen und sich für andere schön zu machen. Nach der herben Enttäuschung mit Sams Vater hatte sie das Interesse an Männern verloren, und zumal sie allein für ihren Lebensunterhalt kämpfen musste, hatte sie sowieso keine Zeit für eine Beziehung. Außerdem war es ihrer Erfahrung nach so viel einfacher. Unkomplizierter.
Eigentlich hatte alles seine Vorteile, es kam nur auf die eigene Einstellung an. Kein Schminken bedeutete mehr Zeit am Morgen, auch erforderte der schlichte Zopf keinen unnötigen Zeitaufwand. Sie bot genau das Bild, das sie von sich bieten wollte – ein respektables Mitglied von Raffaeles Personal.
„Natasha!“
Ungeduld schwang in seiner Stimme mit. Hastig nahm sie das Tablett und stieg damit die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinauf.
Im Türrahmen hielt sie jedoch inne, als sie seine Haltung sah. Ja, ihr Instinkt hatte sie nicht getäuscht. Irgendetwas stimmte nicht.
Raffaele de Feretti. Milliardär. Junggeselle. Chef. Und der Mann, den sie heimlich liebte, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte – trotz seiner Arroganz und dieser überheblichen Ausstrahlung, die er manchmal an den Tag legte, wenn er wieder einmal überhaupt nicht zuhörte, was man ihm sagte.
Er hatte sie nicht gehört, stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und sah hinaus auf den regennassen Park.
Heute lag der Park verlassen da, doch an schönen Tagen konnte man die Kindermädchen mit ihren jungen Schützlingen dort spielen sehen. Oder junge
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