Lassiter und der Gentleman-Fighter
hübsche Friedhofsbesucherin zuckte zusammen, als sei sie vom Hieb einer unsichtbaren Peitsche getroffen worden.
»Hallo, Ma’am.« Webber hob grüßend die rechte Hand. »Darf ich fragen, was Sie da machen?«
Doch die rothaarige Lady blieb ihm eine Antwort schuldig.
Stattdessen wirbelte sie herum.
Für einen kurzen Moment sah es so aus, als wolle sie quer über das Gräberfeld davon stürmen.
Aber dann schlug sie einen Haken und sprang geschickt wie eine Katze über die hüfthohe Mauer.
»Aber so warten Sie doch, Ma’am!« Der Neffe des ermordeten Ehepaares rannte ihr hinterher. »Ich möchte mit Ihnen reden!«
Jenseits der Mauer setzten Hufschlagen ein.
Das Geräusch wurde rasch leiser.
Es dauerte nur wenige Sekunden bis Webber ebenfalls den niedrigen Steinwall erreichte. Doch alles, was er bei einem Blick auf die andere Seite noch erkennen konnte, war die schemenhafte Gestalt einer Reiterin, die sich, in eine Staubwolke gehüllt, in gestrecktem Galopp von der Stadt entfernte.
»Hast du eine Ahnung, wer das war?« Webber drehte sich zu Amber um, die mittlerweile ebenfalls herangekommen war.
»Ich habe nicht den blassesten Schimmer, weshalb sich die kleine Schlange hier herumgetrieben hat.« Das Saloongirl schürzte missbilligend die Lippen. Offensichtlich schien seiner blonden Begleiterin sein Interesse an der anderen Frau nicht in den Kram zu passen. »Ich habe sie noch niemals zuvor in Crawford gesehen. Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Und ihr Unkraut hätte die ruhig auch mitnehmen können.« Mit einem verächtlichen Kopfnicken wies sie unter sich. Ein Strauß aus Kornblumen und wilden Rosen lag am Fuß eines Holzkreuzes. »Horace Webber« war mit einem glühenden Nagel in den Querbalken der Erinnerungsstätte gebrannt worden.
***
»So, damit wären alle Formalitäten erledigt.« Webber stand gemeinsam mit Norman Vaughan vor dem Gehöft, das ehemals der Besitz seines Onkels gewesen war. Der Anwalt machte eine Geste über Wohnhaus, Werkstatt und Scheune. »Jetzt brauche ich nur noch eine Unterschrift von Ihnen, dann gehört das alles Ihnen. Damit meine ich die Gebäude und auch das Inventar.« Er holte ein Blatt Papier aus seiner Aktentasche hervor.
»Ich bin also tatsächlich der einzige Erbe?«, erkundigte sich Webber. »Da ist kein Irrtum möglich?«
»Nein, in diesem Punkt können Sie sich sicher sein, Sir.« Obwohl der Lawyer diese Frage bereits zum dritten Mal beantwortete, bemühte er sich noch immer um einen möglichst sachlichen Tonfall. »Als Ihr Onkel mich seinerzeit besucht hat, um die Angelegenheit für den Fall seines Todes zu regeln, hat er seine Ehefrau als Erbin bestimmt. Das ist unter den gegebenen Umständen nicht mehr möglich. Des Weiteren hat Mr. Webber seinen Bruder Franklin erwähnt, dem in diesem Fall der Nachlass zukommen soll.«
»Mein Vater.« Stanley Webber nickte. »Der inzwischen ebenfalls verstorben ist.«
»Genau. Deshalb sind Sie nun der Nächste in der Erbfolge. Daran gibt es juristisch nicht den geringsten Zweifel.«
»Hatten sie denn keine eigenen Nachkommen? Oder Freunde, denen sie etwas hinterlassen wollten?«
»Keine Kinder.« Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Und ansonsten ist auch niemand im Testament erwähnt. Weshalb fragen Sie?« Er sah den Neffen der Ermordeten stirnrunzelnd an.
»Da war …« Für einen kurzen Moment wollte er dem Lawyer von der Begegnung auf dem Friedhof berichten, entschied sich dann aber doch noch einmal anders. »… einfach so ein leichter Zweifel in meinem Hinterkopf. Immerhin hatte ich Onkel Horace schon viele Jahre nicht mehr gesehen. Da kam die Nachricht von der Erbschaft ziemlich unerwartet.«
»Das Schicksal geht eben oft ziemlich seltsame Wege«, entgegnete Vaughan unbeeindruckt. »Davon können Pfarrer und Rechtsanwälte ein Lied singen.« Er fischte einen Federhalter und ein Tintenfass aus seiner Tasche. Gemeinsam mit dem Dokument platzierte er sie auf den Deckel einer Regentonne, dann warf er seinem Klienten über das provisorische Pult hinweg einen auffordernden Blick zu. »Gibt es noch irgendwelche Fragen, oder können wir die Angelegenheit zum Abschluss bringen?«
»Bringen wir es einfach hinter uns.«
Webber setzte seinen Namen unter das Dokument.
»Sehr gut.« Der Lawyer schüttete eine Prise Sand über die noch feuchte Tinte, bevor er das Papier gemeinsam mit den restlichen Utensilien einsteckte. »Ach ja … da gibt es doch noch was.« Er holte einen Umschlag aus der Mappe hervor, den
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