Breed: Roman (German Edition)
1
Ein jeglicher fürchte seine Mutter und seinen Vater.
3 . Mose 19 , 3
E s ist wohlbekannt – teils als Fakt, teils als Bonmot –, dass die New Yorker sich gern mit dem Thema Immobilien beschäftigen. Leslie Kramer kannte das Haus, in dem Alex Twisden wohnte, bereits bevor sie ihn selbst kennenlernte oder auch nur seinen Namen wusste. Sie kam oft daran vorbei, wenn sie zu Fuß zur Gardenia Press ging, dem Verlag, bei dem sie, obgleich alleinstehend und kinderlos, als Lektorin für Kinderbücher arbeitete.
Das Haus war ein Teil des echten alten New York, erbaut, bevor es richtige Steuern und Gewerkschaften gab, zu einer Zeit, als die Wohlhabenden noch Geld für Maurer-und Zimmermannsarbeiten bester Qualität ausgaben, dazu für eine Vielzahl an Dienstboten, darunter Leute, die Stroh auf die Straßen legten, damit die Wagenräder der vorüberfahrenden Kaufleute nicht lärmend über das Kopfsteinpflaster ratterten. Es war ein vierstöckiges Stadthaus in der East Sixty-Ninth Street, ein gern fotografiertes Domizil im Federal Style, erbaut aus lachsfarbenen Ziegeln mit Fenstern, die das einfallende Sonnenlicht in einen prismatischen Farbfächer verwandelten, gerahmt von blassgrünen Läden.
Es war eines der wenigen Gebäude in diesem Viertel, das nicht in mehrere Wohnungen aufgeteilt worden war, und das einzige Haus in der Gegend, das sich seit seinem Bau im Besitz derselben Familie befand. Daher war es einer jener Orte, die immun gegen Veränderungen zu sein schienen, immer hübsch anzusehen und immer ein Ausdruck von Privilegiertheit und einer Herkunft, die dieses Privileg auch zukünftig rechtfertigte. An der Fassade war eine polierte Messingplakette mit dem Entstehungsjahr 1840 angebracht. In den Blumenkästen blühte fast immer etwas, Schneeglöckchen im Frühling und danach Tulpen, Fleißige Lieschen, Geranien und verschiedene Sorten Zierkohl, manche so ungewöhnlich und selten, dass Passanten auf dem Gehweg innehielten und sich Gedanken über Namen und Herkunft machten. Der Laternenpfahl neben den acht Treppenstufen, die zur Veranda führten, war das ganze Jahr über mit funkelnden blauen Lämpchen umwunden. Die Sachen für die Wertstoffsammlung wurden in Kisten, die einst Château Beychevelle oder Taittinger enthalten hatten, an den Straßenrand gestellt.
In diesen Räumen waren die Twisdens geboren worden und gestorben. Theodore Roosevelt hatte mehrfach hier diniert. Legendär war eine Abendgesellschaft, bei der der Präsident auf einer Ukulele gespielt und dazu kubanische Volkslieder gesungen hatte, in Anwesenheit des amerikanischen Botschafters in Großbritannien und einer russischen Ballerina, die, wie sich später herausstellte, eine Affäre mit Abraham Twisden, dem Gastgeber, hatte. Hier hatten die Twisdens gelebt, Rechtsanwälte und Ärzte, Politiker, Bohemiens, Trunkenbolde und Faulpelze. Einer der Letzteren hatte das Haus beim Poker in der West Fourteenth Street verloren, eine Spielschuld, die durch das plötzliche Ableben des glücklichen Gewinners annulliert worden war, der somit doch kein rechtes Glück gehabt hatte.
Alex war in diesem Haus gemeinsam mit seinen Schwestern Katherine und Cecile aufgewachsen. Ihre Welt war dieses Gebäude mit seinen melonengroßen Mahagonikugeln auf allen Treppenpfosten, mit üppigen Stuckrosetten an den Decken und Holztäfelung im Salon und in der Bibliothek, mit antiken, in Rot, Purpur, Blau und Gold schimmernden Perserteppichen auf den weitläufigen Dielenböden, mit Läufern, geknüpft von kleinen Händen, die schon längst zu Staub zerfallen waren.
Katherine lebt seit langer Zeit als buddhistische Nonne in Thailand und hat sich von der Familie losgesagt; sie leidet an einem Gehirntumor, der ihre Laune beeinträchtigt, sich jedoch offenbar nicht negativ auf ihre Lebenserwartung auswirkt. Cecile starb dreizehnjährig nach einer Blinddarmoperation an einer Staphylokokkeninfektion, und nachdem auch die Eltern der drei 1970 bei einem Unfall auf Korfu umgekommen waren, ging das Gebäude in der Sixty-Ninth Street ohne jeden Streit direkt an Alex über.
Und es war dieses Haus, das Alex und Leslie zusammenführte. An einem nieseligen Frühlingsmorgen beobachtete Alex, wie Leslie vor der Villa stand, worauf er fragte: »Habe ich Sie nicht schon mal gesehen?«
»Das kann gut sein, ich mache gern eine kleine Pause, wenn ich auf meinem Weg zur Arbeit hier vorbeikomme. Es ist so ein wunderschönes Haus!«
»Ich bin sein Gefangener, fürchte ich«, sagte Alex. »Ich
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