Lasst eure Kinder in Ruhe
Eltern ein.
Das war schon immer so. In unserer Kindheit gab es auch Elternliebe, es gab aber auch die Erziehung zu Disziplin, die alle Anklänge an die soldatische Zucht der preußischen und teilweise der faschistischen Traditionen aufwies, es gab Schläge für Ungehorsam – es gab alle möglichen Formen der Erbarmungslosigkeit.
Heute ist es nicht anders, nur die Erscheinungsformen der durch Anpassung beschädigten Elternliebe haben sich verändert.
Heute werden die Kleinen zu Vorzeigeobjekten. Sie sollen aller Welt, der Kindergärtnerin, den anderen Eltern und wem auch immer beweisen, dass sie ganz besondere Kinder sind, hervorragend betreut, geliebt und umsorgt (»Wir lassen uns als Eltern keine Nachlässigkeit nachsagen!«). Zum Leistungsklima, in das die Kinder viel zu früh gezwungen werden, kommt Verwöhnung hinzu. Diese Mischung ist teuflisch.
Elternliebe verschmilzt mit Überfürsorglichkeit, mit Verwöhnung und ist gleichzeitig von Leistungsansprüchen – und entsprechenden Ängsten bei Kindern und Eltern – durchzogen.
Im Ganzen ergibt sich ein Erziehungsklima, in dem die Kleinen einerseits umhegt und behütet werden, andererseits werden sie in Förderungen vom Sprachtraining zum Ballett usw. getrieben. Immer mit dem ausgesprochenen
oder unausgesprochenen Anspruch: Unser Kind muss ein ganz tolles Kind sein.
Eltern sitzen den Kindern viel zu sehr »im Nacken«, wissen alles über Entwicklungsschritte der frühen Kindheit, scheuen keine Mühe, ihr Kind zu drei oder vier Trainings und mehr pro Woche zu kutschieren – und die Kleinen bleiben seelisch »klein«. Umhegt und umsorgt und unselbstständig.
Ein seltsamer Kreislauf setzt da ein: Je umsorgter die Kinder sind, desto unselbstständiger werden sie, trauen sich kaum etwas zu und wirken oft antriebslos. Der Zwang zu Leistung – schon im Kindergarten, später verschärft in der Grundschule mit ihren Selektionsmechanismen – wird gleichzeitig immer drängender. Es gibt kein Entkommen.
Es gibt nicht, wie früher, autonome Kinderkulturen, im Wald oder auf entlegenen Hinterhöfen. Es gibt kaum noch Geheimnisse der Kindheit. Mama weiß alles, Papa kontrolliert alles – und die unsicheren Kinder trauen sich kaum noch bei Regen auf die Straße. Sie könnten sich ja einen Schnupfen holen. Sie trauen sich kaum noch, einfach mal loszurennen und loszubrüllen, Mama könnte ja eine Verhaltensstörung befürchten, ein Ringkampf auf dem Schulhof führt die ebenso übereifrigen Pädagogen rasch zu der Vermutung, dass eine Gewaltneigung vorliegt – »man liest ja so viel über Amokläufe«.
Überall dieser moralisch-kontrollierende normative Blick. Die Kleinen bekommen keine Luft zum freien Leben, zum lauten Spiel, zum Raufen und Streiten und Sich-Vertragen. Sie werden natürlich nicht friedfertig
und leise dabei, sondern unruhig. Da lauert dann schon eine – oft falsche, in fast jedem Fall unzureichende – AD(H)S-Diagnose eines eilfertigen Kinderarztes und daraufhin noch mehr Sorge und Sich-Kümmern und noch mehr Einengung eines freien Kinderlebens.
Sie werden mit sich selber nicht recht bekannt, diese Kinder, sie lernen ihren Körper nicht im heftigen Spiel und Streit kennen, ihre Fähigkeiten nicht außerhalb des bewertenden rivalisierenden Blicks auf andere Kinder, ihre Gemeinschaft und Zugehörigkeit nicht ohne den Druck der Selektion (»Hoffentlich keine Hauptschulempfehlung! «). Überversorgt, insgeheim angstbereit und träge hocken sie vor dem Fernseher oder Computer und hängen Kinderträumen nach. Aber nur virtuellen, fiktiven. Die realen mit Hoffnung und Eifer, Niederlage und Wut und neuer Kraft haben sie gar nicht richtig kennenlernen dürfen.
Mit Liebe auf die Dinge schauen
LIEBE IST EINE ART, die Dinge so anzuschauen, dass sie nicht sogleich geordnet und geteilt, sondern zuerst und vor allem empfunden werden. Kinder können die Welt so anschauen – und wieder meine ich einfache Dinge: ein Blatt, einen Baum, Wasser, das aus einem Brunnen springt. Sie sind mit ihrer ganzen Existenz, mit Leib und Sinnen mittendrin in diesem Schauen. Das nenne ich liebevoll. Wenn es uns gelingt, ein wenig von diesem verwunderten Schauen in uns aufzunehmen, das empfindsam, aber unsentimental in uns eindringt und rumort (also »aufrührt«) und gar nicht so richtig kontrolliert und geordnet werden kann, dann haben wir schon viel verstanden. Dann gelingt auch der nächste Schritt. Wir können nämlich denselben Blick auf unsere Kinder richten, auf das
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