Lasst eure Kinder in Ruhe
Verdacht auf, dass viele Eltern ihre Kinder aus keinem anderen Grund als dem des schlechten Gewissens in die Frühförderung geben.
Die Frühförderinstitutionen haben, etwas überspitzt gesagt, den Charakter des Fernsehapparates. Ein Vier-oder ein Zweijähriger vorm Fernsehapparat, das sieht übel aus. Aber derselbe Zweijährige in einem Förderkurs, wie er eifrig Englisch lernt und dabei nicht ein Gran klüger wird, das macht ein ganz anderes Bild. Das können Eltern den Verwandten und anderen Eltern vorzeigen, das wirkt nicht peinlich, vielleicht sogar engagiert. Es ist aber inhaltlich genau dasselbe, die Störungen dürften auch ganz ähnlich sein.
Nun freilich, dies darf man den Fördereinrichtungen nicht umstandslos zum Vorwurf machen. Viele Pädagogen und Erzieherinnen dort wissen wahrscheinlich genau, wie unterschiedlich die Motive der Eltern sind. Und sie wissen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch, dass nicht alle Motive Bildungsideale für ihre Kinder enthalten. Aber auf der anderen Seite: Geschäft ist Geschäft. Jeder muss ja irgendwie überleben. Nur ist frühkindliche Entwicklung der denkbar schlechteste Ort für einen freien marktwirtschaftlichen Wettbewerb.
Als Kleinunternehmer wie »Little Giants« auf einem boomenden, aber auch überfüllten Markt zu handeln, ist nicht einfach. Das Problem liegt in der Gesamtkonstruktion, in der Struktur. Sie müsste so sein, dass die Betreiber bei fehlender oder falscher Motivation, bei offenkundigem Widerstand des Kindes usw. die innere Freiheit hätten, gegebenenfalls ein Kind abzulehnen (ich wiederhole: Unter den gegenwärtigen Voraussetzungen ist dies nicht von ihnen zu erwarten.).
In manchen Einrichtungen, höre ich, passiert dies auch
von Zeit zu Zeit. Das hat meinen Respekt. Aber sicher ist ebenso, dass viele Kinder auch unter ungünstigen Bedingungen, unter fast hoffnungslosen Bedingungen aufgenommen werden. Nun ja, machen wir uns nichts vor, viele Therapeuten nehmen auch Familien an mit schwierigen Kindern und wissen von Anfang an, dass sie für diesen Fall nicht unbedingt die Geeignetsten sind. So ist unsere Gesellschaft organisiert: Immer in Konkurrenz zwischen dem Wohl des Menschen, besonders dem der Kinder, diesem sehr empfindlichen Wohl, und der Not, das Geschäft finanziell aufrechtzuerhalten.
Das lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Nutzen der Fördereinrichtungen ganz allgemein zurück. Bei therapeutischen Einrichtungen und Beratungsstellen wird man den grundsätzlichen Nutzen kaum infrage stellen. Bei den Fördereinrichtungen wie denen des Frühsprachlernens und der »Exzellenzpädagogik« mit ihrer übertriebenen und nicht förderlichen vorzeitigen Wissensvermittlung bezweifle ich in Übereinstimmung mit der deutschen Philosophie seit 300 Jahren und der Gehirnforschung seit drei Jahrzehnten diesen Nutzen radikal.
Nun mag man sagen, Lernen ist schließlich Lernen. Vorlesen am Abend ist ebenso Lernen wie der Worterwerb und die zweite Sprache in den Fördereinrichtungen. Das ist falsch. Wir müssen bei den kindlichen Lernvorgängen begreifen, dass Kinder noch viel mehr als ein lernender Erwachsener in jeder Sekunde eingebunden sind in ein hochkomplexes Geschehen, in Anspannung oder Ablenkung, in Emotionen vielfältiger Art, die die
Kleinen viel mehr überwältigen als Erwachsene. Sie haben ja kaum Distanz dazu, ihre Bindungssuche, ihr Frohsinn, wenn die Kindergärtnerin lächelt, und ihre Traurigkeit, wenn sie auch nur traurig guckt, ihre Ängstlichkeit, die immer auf dem Sprung liegt – denn was wird Mama oder Papa sagen, wenn sie wieder mal nicht genug gelernt haben ... dies alles fließt in den Lernvorgang ein. Und da wird der Unterschied zum Vorlesen abends am Bett doch deutlich.
Und er geht noch viel tiefer. Er geht in die Fundamente der kindlichen Seele hinein. Worte sind ja nicht zuallererst Informationsträger, jedenfalls nicht für Kinder. Sie sind Gefühlsträger, Gefühlsworte. Deswegen achten Kinder viel mehr auf den Laut, den Klang als auf den rationalen Kern eines Wortes.
Was ruft dieser Klang in ihnen hervor? Eine Aufmerksamkeit, eine Freude, eine Erinnerung oder ein Erschrecken? Je nachdem, was der Laut im Erinnern des Kindes initiiert, wird er nun gespeichert.
Das Wort »Wasser« beispielsweise, mit den beiden zischenden »s« in der Mitte, bei denen man schon den Wasserbrunnen fröhlich aufspringen sieht, verbindet sich mit einem schönen Erinnerungsbild vom vergangenen Urlaub.
Jetzt prägt sich der Laut ein und mit dem
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