Lasst eure Kinder in Ruhe
unglaublich Erstaunliche ihrer Existenz: »Dass es dich überhaupt gibt, mein Sohn, meine Tochter, ist unbegreiflich. « Das nenne ich Liebe.
Vielleicht haben Sie einen Termin, einen dringenden (Termine sind immer dringend in unserer Gesellschaftskultur), aber Ihr Vierjähriger hockt ganz verzückt über seinem Haus aus Plastik mit einem Maschinenpark rundum, auf den, wer weiß, woher, soeben ein Blatt von irgendeinem Baum vor dem geöffneten Fenster gesegelt kam. Solch ein Blatt, das Unvorhergesehenste, was einem Maschinenpark oder einem Bauernhof aus Figuren und Basteleien zustoßen kann, muss erst mal betastet
werden – erstaunlich, wie sich das anfühlt –, dann probehalber als Dach über eine Garage gelegt werden, wo es aber gleich wieder runtersegelt. Ein höchst ambivalentes Objekt, dieses Blatt. Jetzt wird seine Schwere und seine Faserung erkundet, es ist wie das kindliche Entziffern eines Wunders (das Blatt selbst kam ja auch unvorhersagbar wie ein Wunder reingeflogen). Kluge Eltern lassen sich von solchem Spiel einfangen – vielleicht sind sie gerade zur Tür reingestürzt (»Komm endlich, wir müssen doch los«!) und dann halten sie ein vor diesem völlig versunkenen Erkunden der Wirklichkeit mit allen Mitteln der kindlichen Fantasie.
So ein Blatt – wo kam das bloß her? – ist tatsächlich höchst ver-wunderlich. Ein guter elterlicher Blick wandert vom Blatt zum Vierjährigen und wieder zurück – und der Termin hat ganz bestimmt ein bisschen Zeit! »Dass es das alles gibt, dieses Kind und sein angestrengtes Stirnrunzeln, weil das blöde Blatt schon wieder nicht dort liegen bleibt, wo es hingehört!«
Jetzt, feinfühlig und versunken, Mamas oder Papas bewahrenden Blick neben sich, schöpft ein Kind Zuversicht. In sich selber, seinen feinen Tastsinn und alle anderen Sinne, seine Begabung, mit einem Blatt hundert und mehr praktische Dinge anzustellen, die alle von Fantasie getränkt sind. Das Kind »schlürft« Zuversicht, und zwar in großen Zügen. So geht das!
Ja, gewiss, ich bin an dieser Stelle professionell ein wenig verbohrt, mir fallen nur Beispiele mit Kindern und Eltern ein. Künstlern fallen andere ein – aber dass die Johannespassion beispielsweise mit Liebe zu tun hat,
verstehe sogar ich, der ich ein musikalisch ungebildeter Mensch bin, ich höre es einfach. Handwerkern würden wiederum ganz andere Beispiele einfallen, sie alle sind konkret und füllen das Wort so, dass es kein weiteres Wort, kein ergänzendes, krönendes, pathetisches mehr benötigt. Also sag ich’s einfach noch mal: Den Mut für die Hoffnung und den Glauben an das Leben erwerben wir durch Liebe. Liebe ist konkret und gegenwärtig, sie ist hier und jetzt. Und sie hat ein großes, meist melancholisches Empfinden für das Vergehen der Zeit. Alles ist nur einmal, nur jetzt, und dann nie wieder. Und Lernen ohne dieses hohe Maß an Liebe, das gelingt nie. Da mögen Profis wissenschaftlich angeleitete Methoden erspinnen wie aus einer Giftküche: Alles zerschellt an der beharrlichen Sinnlichkeit und am Reichtum an Neugier, den die Vorschulkinder in sich tragen. Man müsste diesen Reichtum schon rausdisziplinieren und -exzerpieren, und manchmal habe ich den Eindruck, eben dies passiert in manchem Förderunterricht.
Aber zurück zu Liebe, Bindung und Lernen und wie alles seine Zeit braucht. Bildung, wusste die große Bildungstheorie immer, ist eine Frage der Zeit. Bildung vergeudet Zeit, lockt auf Abwege – wer jetzt direkt auf das Lernziel zumarschiert, als hätte er tatsächlich seelische Marschstiefel an den Füßen, ausgerechnet der verirrt sich. So komplex ist das mit der Bildung.
Zeit verlieren – Voraussetzung wirklicher Bildung. Dazu ein Beispiel:
Nehmen wir die Zeit. Jeden Mittag auf dem Spielplatz mit der zweijährigen, dann vierjährigen, dann sechsjährigen
Tochter. Wie sie zum ersten Mal die Schaukel allein in Schwung bringt und ihrem Papa stolz zuruft: »Schau mal, wie hoch ich fliegen kann!« Ein Jahr später fliegt sie noch höher, und manchmal schaut man schon gar nicht mehr hin. Man kennt das ja schon. Und wieder wenige Jahre später läuft man an eben diesem Spielplatz vorbei, hört die Stimmen der Kinder und die Rufe der Mütter, manchmal ist ein Vater dazwischen, und dann steckt es wie ein Kloß im Hals.
Eine kleine, weise Erkenntnis drängt sich auf: Alles war nur einmal, vor sechs Jahren, vor vier Jahren – und jetzt nie wieder. Auch solches Erinnern, das einen manchmal überfällt und meist
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