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Lasst eure Kinder in Ruhe

Lasst eure Kinder in Ruhe

Titel: Lasst eure Kinder in Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Bergmann
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Laut zugleich das Sprachbild. Jetzt hat ein Kind das zischende Doppel-s eingeprägt und damit die Wahrnehmung für die Doppelkonsonanten geöffnet, wie es später in der Schule heißen wird. Jetzt lernt es, sogar für schulisches Lernen Jahre später.

    Es wird immer und immer wieder wissen, dass bei dem Wort »Wasser« (vielleicht schreibt es das Wort am Anfang noch mit einem »V«, macht nichts!) in der Mitte die beiden »s« stehen.
    So sind Lernvorgänge. Es kommt nicht auf die Rechtschreibung dabei an. Es kommt an auf das Vertrautwerden mit dem Wort. Genauer gesagt, das Vertrautwerden mit dem Laut, den das Kind als Erstes aufgenommen hat, vielleicht schon im vorsprachlichen Stadium oder einem ganz frühen sprachlichen. Es kommt ganz und gar an auf die emotionale Verarbeitung der Laute, aus denen dann ab dem vierten, fünften oder auch erst sechsten Lebensjahr ein Wortbild entsteht. Dies sind die Übergänge vom Sprachlernen zum Schriftlernen.
    Und nun vergleichen wir die beiden Lernsituationen. Mama oder Papa, das kann auch die Großmutter sein oder der Onkel, erzählt eine Geschichte. Meistens ist es eine bekannte Geschichte. Das ist die erste Ebene der Vertrautheit.
    Das Kind kuschelt sich froh und in Erwartung unter seine Decke, es schaut Mama oder dem Onkel ins Gesicht. Das Gesicht antwortet, lächelt, das Vertrauen wird mit jedem Lächeln noch einmal vertieft und senkt sich in die Seele des Kindes.
    Nun beginnt die Geschichte.
    Kinder achten darauf, das tun sie seit Generationen, seit alters her, dass die Geschichten immer gleich erzählt werden. Daran kann man erkennen, wie sehr sie diese Vertrautheit benötigen, wie sehr sie die Gleichmäßigkeit benötigen, damit ihr Erinnern emotional erst gar nicht
irritiert wird. Sie wollen das ganz und gar Gewisse, das ganz und gar Sichere.
    Jetzt lauschen sie auf die Worte. Lauschen sagte ich. Darin ist wieder zuerst der Wortklang gemeint. Es ist wichtig zu verstehen (viele Universitätsprofessoren haben Mühe damit), dass die Kinder zunächst den Sinn über die Laute und die mit ihnen verbundenen Gefühle aufnehmen und einatmen. Fällt diese Laut-Wahrnehmung weg, dann wird auch die bewusste, die rationale Wortwahrnehmung unsicher, irritiert und mindestens sehr schnell wieder aus dem Gedächtnis gelöscht.
    Nun kommt zu dem Lautcharakter des Wortes die Stimme des oder der Vorlesenden hinzu: Papas Stimme, Mamas Stimme, Großvaters Stimme oder die des geliebten Onkels eben. Entlang dem wiederum vertrauten Stimmklang ertönen die erwarteten Laute, beides formt sich zu einer Wahrnehmungsgewissheit, einem Wahrnehmungswohlgefühl, einer Wahrnehmungsbindung.
    Jetzt durchfließt das Wort mit Klang und Inhalt alle Areale des Gehirns gleichzeitig, die Reflexionen im Stirnbereich, die Speicherung, die der Hippocampus verteilt, das Fließen der hormonellen Botenstoffe, die sich über alle Verschaltungen des Gehirns ergießen. So viel zur biologischen Seite.
    Und seelisch ist es so, dass auch eine schreckliche Wendung der Geschichte in diese Vertrautheit eingebunden wird. Diese Vertrautheit versöhnt. Die Kinder lernen also auch, sich dem Ängstigenden, dem manchmal Furchtbaren wie im Märchen zu stellen, wenn sie diese genannten Gewissheiten gleichzeitig in sich
versammelt haben. Ein hochkomplexer Lernvorgang, schon wieder.
    Auch im Inhalt wird Disparates, Widersprüchliches gelernt. Nein, es müssen nicht nur versöhnliche Geschichten mit Feen und Elfen sein, es sei denn, es ist schon sehr spät geworden und die Geschichte wird direkt vor dem Schlafengehen vorgelesen. Da sollte man selbstverständlich Irritationen und alle Schrecken weglassen. Aber sonst nicht zimperlich sein. Beim beruhigten Vorlesen ist dieses vollständige Erfassen von Wirklichkeitssinn und Bindungsgewissheit durch den Lautcharakter des Wortes, der wiederum den Sinncharakter überhaupt erst in das kindliche Gedächtnis einfließen lässt, gesichert auf eine Weise, die auch Dunkles erträglich macht und seine Verarbeitung ermöglicht. (Wie soll das denn alles im genormten Förderunterricht untergebracht werden?)
    Es ist die Krux der Pädagogik-Ingenieure, dieser Technokraten, dass sie diese hohe sinnliche und liebende Weltwahrnehmung reduzieren auf instrumentale Anteile, dass sie alles Komplexe wegwischen zugunsten einer Methode. Das kann nicht funktionieren. Selbst wenn Kinder mit zwei oder drei Jahren in vernünftiger Weise die zweite oder dritte oder sonst eine Sprache oder weiß der Himmel was lernen

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