Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
relativ unwichtigen Dingen wie der Verletzung eines Fußballers; das klingt nebensächlich, trifft aber den Kern der Sache.
Bezeichnend in diesem Zusammenhang war auch, wie die »Personalie Ballack« angesichts des guten Turnierverlaufs für die deutsche Mannschaft dann wenige Wochen später plötzlich niemanden mehr zu interessieren schien. Hauptsache, die Bänderriss-Katastrophen-Sau war durchs mediale Dorf getrieben worden.
Der Soziologe Ulrich Beck wies bereits Mitte der 80er Jahre daraufhin, dass wir langsam, aber sicher in eine »Katastrophengesellschaft« kommen, in der der »Ausnahmezum Normalzustand« 5 zu werden drohe. Diese Feststellung ist für unser Zusammenleben bedrohlich. Wenn wir nur noch vor dem Hintergrund einer Scheinkatastrophe agieren, heißt das, dann führen wir damit die echte Katastrophe herbei.
Verantwortlich für eine solche »Katastrophenstimmung« sind allerdings nicht primär, wie viele glauben, fehlender Lebenssinn, Zeitmangel oder zu viel Druck. All diese Dinge spielen zwar eine entscheidende Rolle, wenn wir uns in unserem Leben nicht wohlfühlen. Doch der eigentliche Schauplatz dieses existenziellen Kampfes, den wir unbewusst ausfechten, ist unsere Psyche. Sie bekommt einen permanenten Katastrophenalarm vorgegaukelt, der uns an den Rand unserer Existenz zu bringen scheint.
Das ist das eigentliche Paradoxon, mit dem ich mich beschäftige: Obwohl in unserem westlichen Wohlstandsleben keine erkennbare reale Bedrohung besteht, weder ein Krieg noch Hungersnöte oder große Naturkatastrophen unmittelbar drohen, fühlen viele Menschen eine ständig zunehmende Gefahr, sowohl für ihre eigene Existenz als auch für das Überleben der gesamten Gesellschaft.
Sind wir denn nun alle dem Untergang geweiht? Oder dürfen wir das Leben noch ein wenig in Ruhe genießen? Letzteres wird zunehmend unwahrscheinlicher, glaubt man der medialen Dauerbeschallung. Tatsächlich jedoch dürfte der Weltuntergang wohl noch eine Weile auf sich warten lassen – und wie die heutigen Krisen und Katastrophen zu bewerten sind, mag vor dem Hintergrund der Krisen, die die Bevölkerung in Europa im 20. Jahrhundert durchmachen musste, für manchen eine zynische Frage, zumindest aber eine der Perspektive sein.
Warum ist mir dieses Thema dann so wichtig? Ich habe die zunehmenden Entwicklungsstörungen von Kindern und Jugendlichen im emotionalen und sozialen Bereich analysiert und dabei aufgezeigt, welche Hintergründe dafür verantwortlich sind. Mit dem dreistufigen Modell der Beziehungsstörungen
»Partnerschaftlichkeit«, »Projektion« und »Symbiose« lässt sich erklären, warum bei den betroffenen Kindern bekannte pädagogische Erklärungsansätze nicht greifen und wie das Problem an der Wurzel angegriffen werden kann. Geht man davon aus, dass die psychische Entwicklung bei Kindern auf Grund von gestörten Beziehungen zwischen ihnen und den Erwachsenen nicht richtig vorankommt, schließt das automatisch die Frage nach der Entstehung dieser Beziehungsstörungen mit ein. An dieser Stelle kommt die Erkenntnis zum Tragen, dass das »System Gesellschaft« in den Mittelpunkt der Betrachtungen rücken muss. Der ungeheure Druck, der auf jedem einzelnen Elternteil bzw. auch auf Erwachsenen lastet, die beruflich mit Kindern umgehen, treibt viele ins Hamsterrad, nimmt die innere Ruhe und zerstört das Gefühl für unsere Mitte.
Nur eine Sichtweise, die das große Ganze in Betracht zieht, kann zu einem Umdenken führen, durch das letztlich dann auch die Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen sich wieder so gestalten, dass eine natürliche psychische Entwicklung junger Menschen die Regel ist. Gerade im emotionalen und sozialen Bereich muss sich unsere Psyche im Kindesalter ausreichend bilden, damit wir als Erwachsener in der Lage sind, adäquate psychische Leistungen als Mitglieder der Gesellschaft erbringen zu können. Wir können z. B. Fremdbestimmung bis zu einem gewissen Grad aushalten, ohne dass es uns wirklich unangenehm wird, wir können arbeiten, ohne bei der geringsten Anstrengung die Lust zu verlieren, wir können Beziehungen eingehen, ohne beim ersten Problem davonzulaufen. Für all diese täglichen Anforderungen sind wir psychisch gewappnet.
Wenn die Psyche des Erwachsenen dagegen in bestimmten Teilbereichen den Reifegrad eines Kleinkindes aufweist, wie es bei jungen Erwachsenen in steigendem Maß der Fall ist, steht auch im Erwachsenenleben die Lustorientierung im Vordergrund. Ein Symptom dafür ist
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